Bd. 1, FfM 1992
Die zerntralisierende Administration vollendete, was sie ökonomischen Verhältnisse begonnen hatten – eigentlich kam zu der privatrechtlichen die öffentlichrechtliche Ökonomie hinzu: der neue Staat brauchte für seine Einrichtungen mehr Geld, das wenig bevölkerte Land brauchte Arbeitshände, das Heer Soldaten,, und so wurde der Bauer „befestigt“ – „Befestigung“ (prikrĕplenie) ist der russische Ausdruck für die Hörigkeit und Schollenpflichtigkeit, aber auch für die Leibeigenschaft, due sich aus der Hörigkeit bald entwickelte. (S. 29)
Die russische Leibeigenschaft ist von der europäischen dadurch verschieden, dass sie ältere Mirverfassung beibehalten wurde; aber der Mir und sein Agrarkommunismus hat eine andere wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung erlangt. Die wachsende Macht des Großfürsten und Zaren zeitigte die Vorstellung, der gesamte Boden sei sein Eigentum und werde den Gutsherren und durch diese den Bauern zu Nutznießung überlassen; faktisch waren die Gutsherren neben dem Großfürsten Eigentümer des Bodens, sowohl ihres Familiengutes als auch des Bauerngutes. Der Gutsherr konnte darum des Bauer aus der Gemeinde nach dem Belieben wegnehmen und hineinbringen.
Der zentralisierte Staat benutzte den Mir fiskalisch dadurch, dass er die Steuern von der ganzen Gemeinde, nicht von den einzelnen Bauern eintrieb; diese Gemeinbürgschaft hat den Mir fester gefügt und ihm eine gewisse Macht über den einzelnen verliehen; aber die Theorie, der Mit sei überhaupt aus der Gemeinbürgschaft entstanden, ist unrichtig. (S. 31)
Das Christentum konnte von den Russen nicht geistig aufgefasst werden, dazu fehlte ihnen die Bildung – in Byzanz, in Rom wurde das gebildete, philosophisch geschulte Volk christianisiert, die späteren westlichen Völker haben an der römischen Bildung teilgenommen; die Russen waren ganz unvorbereitet, was sollte ihnen die byzantinische Gottesgelehrsamkeit und theologische Religionsphilosophie? Die Russen nahmen darum von Byzanz vorwiegend den Kultus und Kirchenzucht auf. Die Moral dieser Christen blieb vielfach äußerlich und wurde durch äußerliche Dressur verbreitet und befestigt; die Strafen, die die Kirche mit ihrer selbständigen Judikatur verhängen konnte, wirkten mehr als das „Wort“; am stärksten war der Einfluss der mönchischen Moral mit ihrer Askese und dem Klosterwesen. Der Mönch war das lebendige Beispiel, das im Laufe der Zeit am meisten wirkte. Die Byzantiner brachten mit dem Evangelium der Liebe nicht zu viel Menschlichkeit mit sich; es sind byzantinische Sitten, die sich in den neu eingeführten Strafen geltend machten – das Blenden, Handabhauen u. dgl. Grausamkeiten mehr, die dann später durch die tatarischen Sitten vermehrt und verstärkt wurden. (S. 35f)
Die byzantinische Kirche war erstarrt, trotzdem gerade die Griechen die Lehre und die Moral ausgebildet hatten; die Byzantiner begnügten sich mit der fast mechanische Tradition, die Religion war vornehmlich Übung des Kultes. Die Russen haben die Lehre, den Kult, die Moral und Kirchenorganisation von Byzanz fertig übernommen, an der Ausbildung des kirchlich-religiösen Lebens nicht weitergearbeitet, die Erstarrung war womöglich noch intensiver.
Das Gesagte gilt vom Klerus, das Volk begnügte sucg mit der passiven Rezeption der Kirchenzucht und mit dem blinden Wunderglauben, wie derselbe die niedere Stufe der mythischen Weltbetrachtung bedingt.
Die Byzantiner waren scholastisch gebildet, die philosophische Tradition der Griechen erhielt sich in einer Art theosophischer Gnosis; die Russen bemühten such, ihren lehren auch da nachzukommen, aber es gelang ihnen besser, im Kultus ihre religiöse Befriedigung zu finden. Die Mystik war in Moskau weniger theosophisches Schauen, als vielmehr praktische Mystagogie. (S. 38)
Die Geschichte so vieler russischer Sekten zeigt und diesen Tiefstand des religiösen Empfindens und zugleich die Mängel der offiziellen Kirche. Die Europäer haben die moskovitischen Russen sehr oft nicht als Christen, sondern als Polytheisten hingenommen, die Russen selbst aber feierten ihr Land als das „heilige Russland“. (S. 39)
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