Von Krankheit reden die Leute gern, hören sie gern reden. Und darum ist es denen, die die Menschheit tagtäglich von berufswegen zu unterhalten haben, nicht zu verdenken, wenn sie ihre Bilder und Gleichnisse mit Vorliebe aus dem Schatz der Pathologie wählen. Die Feuilletonisten überm und unterm Strich, der Politik und des Pläsiers reden möglichst viel von Krankheit. Sie reden vom Fieber der Spekulation und von Bildungshypertrophie, von einer Goldplethora und von finanziellen Aderlässen, von den verstopften Poren des Volkskörpers und von einer Embolie der Schlagadern des Verkehrs, von den Geburtswehen einer neuen Epoche und dem Todeskampf eines absterbenden Regimes. Sie reden am meisten und liebsten von einem Geschwür, das am Organismus der Gesamtheit zehre, oder von einer Eiterbeule, die zum Aufstich reif sei, von einem sozialpathologischen Phänomen und von einer geistigen Epidemie. Sie reden täglich davon; und den Geschmackvollen unter den Zuhörern wird es auf die Dauer schon ein bisschen viel. Es ist nicht hübsch, wenn der Doktor in einem fort fachsimpelt. Und es ist nicht gut, wenn auch die harmlosesten Vorgänge des öffentlichen Lebens gewaltsam jodoform- und karbolrüchig gemacht werden. Mit allen solchen Dingen geht es schließlich wie mit Zettel dem Weber, oder um in unseren Tagen zu bleiben, wie mit dem Makler Sigismund Gosch in den „Buddenbrooks‘‘: er möchte ein Mephisto sein, und doch durchschaut ihn jedermann als einen ollen ehrlichen Lübecker. Wenn Tag für Tag jede Partei, ob politisch, künstlerisch, religiös, wirtschaftlich, die andere als das am Volkskörper fressende Leiden diagnostiziert, so ist „Krankheit‘ kein Begriff und kein Bild mehr, sondern einfach ein Schimpfwort, und Schimpfwörter werden bekanntlich nicht dadurch wertvoller, dass man sie möglichst oft wiederholt. (S. 7f)
Der französische Denker Comte hat bekanntlich eine Wissenschaft erfunden — oder besser noch einen Namen für eine Wissenschaft: die Soziologie; und wie es mit jeder erfundenen Wissenschaft geht, es gab bald sehr viele Soziologien, ein Dutzend und mehr, und eine davon war die organizistische. Die lehrte, die Gesellschaft sei ein Organismus und die verschiedenen Institutionen: Regierung, Schulen, Banken, Armee, Kirche usw. seien die einzelnen Organe. Das Bild wurde hier und da recht hübsch, und hier und da recht gewaltsam, und hier und da sogar unappetitlich durchgeführt; denn es ist schließlich kein Vergnügen für irgend eine Institution, sich als den Urin oder den After des Volksganzen betrachtet zu wissen. Der Organismus konnte selbstverständlich erkranken. Und die Bilderserie, die man hiefür entwarf, führte die Etikette „Soziale Pathologie und Therapie‘‘. So ist z.B. der unlautere Wettbewerb eine Kinderkrankheit des Kapitalismus (ob Zahnkrämpfe, Brechdurchfalloder Rachitis, hat man, soviel ich sehe, nicht entschieden). Wie gesagt, das war alles ganz amüsant, aber wie jemals jemand darin eine wissenschaftliche Leistung hat sehen können, das gehört zu jenen Rätseln, die auch im Denken der von Beruf Denkenden niemals gefehlt haben. (S. 8f)
Es gibt nämlich Erscheinungen im menschlichen Seelenleben, deren Eigenart gar nicht besser bezeichnet werden kann, als wenn man sie sozialpathologisch, völkerpathologisch, gemeinschaftspathologisch nennt. Ja, man kann sie beim besten Willen eigentlich nicht anders taufen. Aber in welchen begrifflichen Sumpf gerät man nun mit solcher Benamsung! (S. 9f)
Wir wissen, daß wir durch zweckmäßig ausgewählte und zugeteilte Arbeit die Verblödung in vielen Fällen wohltätig beeinflussen, ihr entgegenwirken können; wir wissen, wie sorgsam vorzeitige seelsorgerische Bemühung vom Melancholischen ferngehalten werden muß. Man sei so skeptisch wie denkbar, dies eine wird unter allen Umständen allem seelisch Krankhaften zuzugestehen sein: verschlimmern können die Einwirkungen von außen her es sicher. Alles Pathologische, dem Zufall überlassen, greift rapide um sich, zieht immer weitere seelische Provinzen in sein Netz hinein — und wenn das selbst an den Psychosen sich aufzeigen läßt, um wieviel mehr gilt es nun für die Psychopathien! (S. 17)
Ich denke, wir hätten den Begriff jetzt eingefangen und wie einen Falter aufs Brett gespannt: sozialpathologische Erscheinungen (oder gemeinschaftspathologische) sind alle solche seelischen Krankheitserscheinungen, deren Wesen von sozialen Momenten bestimmt oder doch erheblich mitbestimmt ist. (S. 20)
Im stillen Suff ist das Stadium der psychomotorischen Erregung und der gehobenen Stimmung verkürzt, wird jene rascher von der Trägheit, der Lähmung also, abgelöst, die Euphorie aber kaum oder doch nur andeutungsweise zur stürmischen Ausgelassenheit entwickelt. Das Zusammenzechen gibt dem Rausche ein anderes Bild, grellere Farben möcht’ ich sagen, die Lustigkeit und die erleichterte Beweglichkeit bleiben länger vorherrschend und — treten auch schon früher ein. (…) Es ist ein Vorgang, wie er im seelischen Leben immer und immer wiederkehrt: seelische Veränderung ins Krankhafte wird beschleunigt, indem den anfänglichen, erst leise pathologischen Wandlungen ihr schrankenloses Austoben gewährt wird — und seelische Veränderung ins Krankhafte wird auf dem nämlichen Wege nun auch verändert, indem durch eben dieses Austoben die Erregtheitsmomente in den Vordergrund geschoben und im Vordergrunde. unverhältnismäßig lange gehalten werden. „Austoben‘ aber, dieses vulgäre Wort, ist im Lichte psychologischer Erwägung immer dasselbe, nämlich: Mimik und Rede, Ausdruck und Mitteilung. Seelische Erlebnisse können sich auf gar keine andere Weise austoben, als indem sie mitgeteilt oder indem ihre natürlichen Ausdrucksweisen durchgelebt werden, oder indem beides miteinander geschieht. (S. 24f)
Freude, Zorn, Begeisterung, Erbitterung, auf ihren Träger angewiesen, klingen unvermeidlich ab und in ruhigere Stimmungen aus; sie wachsen in Geste und Wort, die ihr Ausdruck sind, wachsen desto rascher, je häufiger die Gelegenheit dieses Ausdrucks sich wiederholt. Es sind jene Affekte, deren Gewalt aller Berechnung spottet, wenn sie die ‚„Masse‘‘ packen — die Masse, die ja die größte Verkörperung alles Zusammenseins ist. (S. 26)
Präzise formuliert heißt die Frage: wie geht es zu, dass der Mitmensch irgend einen seelischen Vorgang des Menschen, irgend eine Vorstellung, eine Regung, eine Stimmung, einen Geschmack, eine Begierde, einen Entschluss, miterlebt — nicht zufällig (was ja auch wohl vorkommt), sondern in einer Weise miterlebt, die uns das Miterleben des zweiten als die Folge des Erlebens des ersten offenbart? Wie ist es möglich, dass irgend etwas in einer Psyche B eintritt, weil es vordem in einer Psyche A eingetreten war?
Es ist auf dreierlei Art möglich; nämlich 1. durch Einredung, 2. durch Einfühlung, 3. durch Eingebung.
Die Einredung weist uns mannigfache Nuancen, vom Beschwatzen bis zum Überzeugen, allen aber ist gemein, dass versucht wird, mit Gründen der Seele des Mitmenschen eigene Erlebnisse aufzudrängen — ‚Gründen‘ im allerweitesten Sinne: es ist nicht immer und meist wohl nicht sublimierte Logik, die da ihre Künste spielen lässt, der Appell an allerlei obskure ‚Erfahrung‘ und an den hochberühmten „gesunden Menschenverstand‘ nimmt einen breiten Platz ein, allerlei Fragmente und Gemengsel von logischen Operationen in sich schließend. Trotz aller Brüchigkeit bleibt aber das die Pointe, dass der Einredende versucht, überzeugend zu wirken. Es ist die Methode, mit der die Demagogie von heute, sei’s in der Presse, im Parlament in der Volksversammlung, am liebsten arbeitet, so wenig sie, wie wir sehen werden, die beiden anderen Mittel: Einfühlung und Eingebung verschmäht. Es ist überhaupt die eigentlich ‚‚moderne‘‘ Methode, dem Mitmenschen einen Seelenvorgang oder -zustand aufzudrängen. Sie ist dadurch erst zu ihrer Wichtigkeit gelangt, dass das Bedürfnis und die Gepflogenheit, die Überlegungen nach dem Gesichtspunkte von Grund und Folge zu ordnen, heute auch in den Seelen der breiten Massen, der primitiv Denkenden, eine Macht erreicht hat wie nie zuvor. So misslich auch alle statistischen Behauptungen über seelische Geschehnisse sind, so wird es doch unanfechtbar sein, dass heutzutage die weitaus meisten ‚Bekehrungen‘ der Seele B zu irgend einem Vorgange der Seele A auf dem Wege der (beschwatzenden oder überzeugenden) Einredung sich vollziehen. Wir ‚.modernen‘‘ Menschen haben uns auch im Seelischen gewöhnt, die Chaussee zu benutzen — die gerade, ebene und wohlgepflegte Straße, die zum sicheren Ziele führt und von zuverlässigen Meilensteinen gesäumt ist. (S.31)
Einfühlung nun ist das elementare Mit- oder Nacherleben fremder Seelenzustände bei der Wahrnehmung von deren Ausdruck. Auch wo dem Ausdruck die Mitteilung zu Hilfe kommt, bleibt jener die entscheidende Macht. (…) Und die Seelenwissenschaft ist wohl auf der rechten Fährte, wenn sie das Rätsel, wieso denn ein fremder Seelenvorgang einfach durch meine Wahrnehmung in mir selber lebendig werden könne (wenngleich nur angedeutet, wie in leiser Resonanz) —, wenn sie dies Rätsel auf das mehr umspannende Oberrätsel zurückführt, wieso denn der Ausdruck eines Seelenzustandes, indem er wahrgenommen wird, ähnlichen Ausdruck erzeuge? Denn so denkt man sich den noch überaus dunkeln Gang der Dinge: dass der Anblick des Weinens die leise Regung zum Weinen im Mitmenschen und damit das dieser Regung untrennbar verbundene Gefühl der Traurigkeit erwecke. (S. 33)
Das Einreden an sich vermag also nur die Überzeugung von einer künftigen Gemütsverfassung, die Vorstellung dieser Verfassung — also etwas durchaus ‚‚Intellektuelles“ zu erwecken; keineswegs die Verfassung selber. Immer nur auf dem Umwege über Vorstellungen, Begriffe, Erinnerungen, Urteile kann die Einredung auch Gefühlsvorgänge, Erlebnisse des Gemüts, beeinflussen. Und gerade umgekehrt steht es mit der Einfühlung. Aller „Ausdruck“ verrät immer nur Gefühle und Affekte. Die intellektuelle Grundlage dieser Gemütserregungen, der Eindruck, der Gedanke, die Schlussfolgerung, das Phantasiebild, worüber Einer lachen, weinen, die Faust ballen muss, kann jeweils ganz verschieden sein; es findet im Ausdruck keine besondere Spiegelung. (S. 35f)
Ich bilde mir ein, von Fräulein Helene vernachlässigt zu werden, ich bilde mir ein, ein bedeutendes Buch geschrieben zu haben, ich bilde mir ein, keinen Wein zu vertragen. Es ist nicht so, heißt das, oder es ist doch verdammt zweifelhaft, aber ich glaube, dass es so sei, und über die Motive dieses Glaubens vermag ich mir selber keine rechte oder doch keine den Andern einleuchtende Rechenschaft zu geben. Trotz einiger Verschwimmung überschreitet also auch hier die Sprache nicht den Kreis der früher erwähnten Merkmale: in jeder Einbildung steckt ein Stückchen Sinnwidriges oder doch Masswidriges. (S. 39)
Wer irgend einmal mit der berüchtigten ,Soziologie‘‘ zusammengetroffen ist, der kennt den Versuch eines Belgiers, Gabriel Tarde, alles Gemeinschaftsleben aus der Nachahmung herzuleiten. Der Fehler dieser Rechnung liegt an der Oberfläche. Nachahmung — das würde eben für eine allerroheste Klassifizierung ausreichen. Denn Nachahmung besagt doch weiter nichts, als dass Handlungen, Stellungen, Haltungen, Mienen von einem Individuum B. vollzogen, erlernt, angenommen werden, nachdem dieses Individuum B. sie an einem Individuum A. wahrgenommen hat. Über den seelischen Grund dieser ‚Nachahmung‘‘ aber lehrt der Begriff Nachahmung noch gar nichts. Und es ist in Wahrheit gar nicht ein Grund, es sind viele. (S. 43)
Das sind die beiden Probleme, in die unsere Frage nach dem Anteil von Einredung, Einfühlung und Eingebung in der Entstehung seelischer Epidemien ausmündet: die Probleme vom Herd und von den Opfern der seelischen Epidemie. (S. 47)
Je nachdem wir eine Geisteskrankheit — eine Psychose — aus äußeren Ursachen herleiten können oder nicht, gruppieren wir das ganze Gebiet in exogene und endogene Krankheiten. Der Typus jener sind etwa die Psychosen, die der unmäßige Alkoholgenuß erzeugt. Wir haben da (abgesehen von der akuten Alkoholvergiftung, dem Rausch, den wir schon betrachtet haben) erstens eine einfache fortschreitende Versimpelung und Verrohung, einen seelischen Verfall, den einfachen chronischen Alkoholismus: das häufigste Bild. Dann aber, auf dessen Boden, nicht weniger als vier verschiedene Psychosen: einen akut ausbrechenden Erregungszustand mit Angst und Halluzinationen, Schlaflosigkeit und Zittern, der nach Tagen zur Heilung kommt, das bekannte Delirium tremens; eine chronische Wahnbildung, den. Alkoholwahn; eine auf das Gebiet der ehelichen Beziehungen konzentrierte Wahnbildung, den alkoholischen Eifersuchtswahn; endlich eine mit Erregung delirienhaft einsetzende und dann unter enormer Gedächtnisschwächung und mancherlei anderen Nebensymptomen langsam in tiefe Verblödung ausklingende Krankheit, die Korssakowsche Geistesstörung. Von andern Giften sind es Morphium und Kokain, die ausgeprägte Psychosen bei chronischem Missbrauch hervorrufen. Die Syphilis kann unmittelbar geistige Störung, meist nur vorübergehende oder unbeträchtliche, hervorrufen — viel bedeutungsvoller aber wird sie durch die mittelbare, in Verbindung mit andern Schädigungen stehende Wirkung, die in ihren Einzelheiten noch dunkel ist, die aber zu der völligen Zerstörung des seelischen Lebens, dem traurigen Bilde der paralytischen Demenz, des Blödsinns mit Lähmung (Gehirnerweichung nennt’s der Laie) hinführt. Vorübergehende Seelenstörungen kann jede lumpige Fieberkrankheit machen; jeder kennt die Fieberphantasien, die Fieberdelirien. Aber die schweren fieberhaften Krankheiten ziehen manchmal recht lange dauernde geistige Schwächezustände nach sich. Die völlige körperliche Erschöpfung erzeugt einen Aufregungszustand deliriöser Art, der auch in wochenlange Verwirrtheit umschlagen kann. Die Verhärtung und Verlegung der Blutgefäße im Gehirn, wie sie namentlich im Alter hervortritt, macht die verschiedenen krankhaften Seelenveränderungen, die wir senile nennen: geistige Schwäche, aber auch Aufregungszustände, Wahnbildungen, endlich Bilder, die der paralytischen, syphilitisch vorbereiteten Demenz ähneln. Hirngeschwülste aller Art lassen das Seelenleben abnorm werden. Die Produktion des Schilddrüsensaftes, im Zuviel oder Zuwenig, zieht das Seelische in Mitleidenschaft: im Zuviel (bei der Basedowkrankheit) durch Aufregung mit allerlei Wahnbildungen, im Zuwenig (bei Schilddrüsenverkümmerung oder -entfernung) durch apathische Verblödung, die wir Myxödem und (in höheren Graden) Kretinismus heißen. Alle möglichen, pflanzlichen, tierischen, unorganischen Gifte, die in den Kreislauf gelangen, stören das Gleichgewicht des seelischen Lebens. Und dass mangelhafte Gehirnbildung von Anbeginn an nur ein gestörtes Seelenleben zulässt, das wir je nach seinem Verkümmerungsgrade Debilität, Imbezillität oder Idiotie nennen, ist ja bekannt und begreiflich. Unerschöpflich ist somit die Zahl der exogenen Psychosen, so groß eben wie die Zahl ihrer nur möglichen Ursachen.
Gewaltig schien ehedem auch die Mannigfaltigkeit der endogenen Seelenstörungen zu sein. Unermüdliches Bemühen hat hier aber eine übersichtliche Ordnung geschaffen, die im wesentlichen zwei große Bilder eigentlicher Psychosen hervortreten lässt: das zirkuläre Irresein und die Jugendverblödung. (S. 48ff)
Jede dieser hunderterlei Möglichkeiten krankhaft gestörten Seelenlebens soll Ausgangspunkt seelischer Massenerkrankung werden können? Ist es denn vorstellbar ?
Doch. Es lässt sich nicht daran rütteln. Jede kann geistiger Ansteckungsherd werden. Wieso sie es kann, werden wir bald begreifen. Ob jede es schon einmal geworden ist, entzieht sich bei der Unmöglichkeit, für einen großen Teil der historisch weit zurückliegenden oder unsicher überlieferten die richtige Diagnose des Herdes zu finden, der Feststellung. Immerhin scheinen gewisse Krankheiten für die Möglichkeit, Herd einer seelischen Epidemie zu werden, andern voranzustehen. Fasst man sie näher ins Auge, so präsentieren sie sich als von zwei Symptomgruppen beherrscht: es sind einmal die gehobenen Stimmungen und Erregungszustände, und dann Sinnestäuschungen und Wahnbildungen, denen die stärkste epidemische Kraft innewohnt. Da nun solche Stimmungen und Erregungen, Sinnestäuschungen und Wahnbildungen gelegentlich in jeder Psychose wiederkehren, so erhellt auch hieraus die durchgängige Fähigkeit der geistigen Störungen, geistige Epidemien zu erregen. Freilich lässt sich schon theoretisch annehmen, dass solche Geistesstörungen, die von einem oder gar von mehreren jener Symptome zugleich beherrscht werden, besonders geeignet zur Herdbildung sein müssten. Die Erfahrung bestätigt das vollauf. (S. 52f)
Bei allem unverkennbaren Überwiegen einzelner Krankheiten als Herde seelischer Epidemien hängt es schließlich doch von den Opfern ab, ob diese oder jene Psychose epidemische Kraft gewinnt. Sie sind das eigentlich Entscheidende; auch gehobene Stimmung und Erregung, Halluzination und Wahnvorstellung wirken nicht ansteckend „an sich‘, aus sich heraus, sondern je nachdem andere Seelen der Ansteckung durch sie zugänglich sind.
Jede Psychose, jede Psychopathie kann Herd einer seelischen Epidemie werden. Welche es im einzelnen Falle wird, das bestimmt keineswegs die Beschaffenheit des Herdes, sondern die der Ergriffenen. Ist das Pulver gut, so explodiert es an der Streichholzflamme wie am elektrischen Funken; ist es schlecht, so würde man es vergeblich selbst an einem Scheiterhaufen anzünden wollen. Und wenn dennoch bestimmte seelische Krankheitssymptome öfter als andere einen Herd. seelischer Massenerkrankung gebildet haben, so weist diese Auslese nur darauf hin, dass diesen Zuständen (der gehobenen Stimmung und Erregung, der Sinnestäuschung und dem Wahn) zu vielen oder vielleicht zu allen Zeiten eine besondere Empfänglichkeit der übrigen Menschenseelen entgegenkam. (S. 53f)
Alkoholwahn, Myxödem, Paralyse, Fieberdelirium kann mich nur befallen, wenn ich selber saufe, selber zu wenig Schilddrüsensaft absondere, selber syphilitisch war, selber fiebere. Auf keine andere Weise. Die Ursache muss an mir, in mir, auf mich wirken. Für die exogenen Psychosen kann also Übertragung, Ansteckung, epidemisches Umsichgreifen niemals bedeuten, dass andere von ihnen heimgesucht werden, nur weil sie sie miterleben, mitansehen. Es kann nur bedeuten, dass Andere, die an Einem Äußerungen einer solchen Psychose mit ansehen, überhaupt seelisch erkranken. (…) Im Bereiche der körperlichen Epidemien gibt es ein Seitenstück hierzu. Ängstliche Leute kriegen, wenn sie vom Nahen der Cholera hören, leicht Diarrhöe. Es ist dieselbe Diarrhöe, die sie auch befällt, wenn sie eine Reise, eine Rede, ein Examen vorhaben. Die Cholera ist es nicht; die kann erst mit den Kommabazillen ihren Einzug halten. Trotzdem glaubt Mancher, wenn ein paar Angstmeier das Klosett frequentieren, nun sei die Cholera auch hierorts epidemisch. Die ernsthafte Überlegung nennt das natürlich nicht eine Choleraepidemie. (S.55)
Also für die Psychopathien liegt jedenfalls im Bereiche des Diskutablen, was für die Betrachtung der Psychosen ausscheidet: die Möglichkeit, durch seelische Ursachen erregt zu werden — und damit nun die Möglichkeit echter Übertragung, echter Ansteckung, d. h. des Aufflammens in einer zweiten Psyche, die dieselbe Psychopathie in einer ersten Psyche sich abspielen sieht. Hier darf man wirklich sagen: es sei möglich, dass die seelische Erkrankung von ihrem Herd aus auf so und soviel Opfer sich verbreite. Bei den exogenen und endogenen Psychosen dürfte es nur heißen, dass die seelische Erkrankung von ihrem Herd aus in so und soviel Opfern wiederum seelische Erkrankung, aber anders geartete, errege. (S. 59)
Nervenschwäche nun ist heute ein leider ja äußerst verbreiteter Zustand der Menschen, weil die durch Alkohol, Tuberkulose, Syphilis und künstliche Säuglingsernährung an sich schon geschwächten Generationen dem überstürzten Hereinbruch unseres Zeitalters mit seiner Unrast und seinen tausend kleinen aufreibenden Plackereien nicht gewachsen sein konnten. Darum wimmelt’s denn auch von Hypochondern, und die früher nie so gekannte hygienische Belehrung, die jeden Menschen zum Halbdoktor macht, tut das ihrige, um der Ausmalung von Krankheitsmöglichkeiten eine reiche Palette zu liefern. Die Nervenschwäche nun, als Ergebnis der neuen Lebensbedingungen, ist notwendig dem veränderten Seelenzustande der Menschen, den diese selben Lebensbedingungen auch in den Gesunden erweckt haben, verwandt. Unser ganzes Leben ist so geartet, dass wir sensibler, im Stimmungsleben labiler, im allgemeinen unruhiger geworden sind, wir alle, die wir dieses Leben ja doch selbsttätig mitleben, mitmachen müssen; man redet vom ‚‚nervösen‘ Zeitalter und denkt dabei nicht immer ans Pathologische, sondern an den durchschnittlichen Zeitgeist überhaupt. Darum aber bewegen sich auch die leidlich gesund Gebliebenen immer nahe am Abhange der Neurasthenie. (S. 63)
die Ausmalung von Krankheitsmöglichkeiten, dominiert. Wir sagten ja früher schon, selbst Simulation von Geistesstörung könne Herd einer Epidemie sein. Wir kommen hier noch weiter. Es reicht die zufällige Übereinstimmung eines wichtigen Charakterzuges hin. Der hygienische Aufklärer malt Krankheiten aus und der hypochondrische auch. Das genügt, Jenen zum Herd für das Aufflackern einer hypochondrischen Epidemie werden zu lassen. (S. 64f)
In der Geschichte krankhafter religiöser Massenbewegungen hat die Askese eine eminente Rolle gespielt. Ihre Wirkung aber besteht zunächst und zu allermeist in einer Steigerung der Einfühlbarkeit, im Verlust der Beherrschung eigener Miterregung durch fremde Gemütserregungen. Askese ist ja weiter nichts als methodische Erschöpfung, die an sich schon Übererregung in sich schließt, und diese Übererregung selber meist noch methodisch in die Höhe geschraubt durch positiv erregende Maßnahmen, wie Geißelungen und Selbstpeinigung aller Art. Die pathologische Erregung, die so geschaffen wird, ist gleichzeitig sensorisch und psychomotorisch: Trugwahrnehmungen sind erleichtert, ebenso auch Bewegungsauslösungen. Und sicherlich ist sie früher psychomotorisch als sensorisch. (S. 68)
Ist es überhaupt noch nötig, über den Unterschied in der faszinierenden Gewalt der Befehlshaber, die ihre Schar dem Tode entgegentreiben, und derer, die sie dem Tode entgegenführen, zu reden? Bei welchen die Gewissheit der Herrschaft über die Masse liegt? Es ist eigentlich nicht nötig. (S. 70)
Man braucht hysterisch Veranlagte, sog. Hysteropathen, oder Hysterische nur in die Nähe von Kranken zu bringen, und sehr bald beginnt eine überreiche Produktion von Symptomen. Auch scheint es, als sei der wirklich Kranke der günstigste „Herd“ hierfür. Bloße Simulation bleibt oft ganz wirkungslos, genau wie absichtliche Suggerierung. Offenbar verrät die Einfühlung, die ja auch uns häufig Übertreibung von Beschwerden sofort durchschauen lässt, dem Hysterischen, ob der Andere wirklich unter einer Heimsuchung leidet, oder nicht. Es ist erstaunlich, wie rapide beispielshalber eine echte Chorea, jene Kinderkrankheit also, die in einem Schlenkern der Glieder und in Grimassen des Gesichts, in einer ständigen motorischen Unruhe sich kundgibt, wie rapide die zum Herd einer hysterischen Schulepidemie werden kann. (S. 79)
Das Ergebnis ist uns sicher: dass eine seelische Störung, die in der Nachbildung von Krankheitsäußerungen, in der Nachbildung nächstdem des Auffallenden, Ungewöhnlichen, Extravaganten, sofern es mit einer Nuance des Leidens und Leidenmüssens durchsetzt ist, ihre Triumphe feiert — dass eine solche seelische Störung ein eminent günstiges Feld für die Miterregung durch Miterlebung fremder Krankheit darbieten muss. Vorzüglich in einer Richtung wird diese Störung allen andern überlegen sein, in der Aneignung ungewöhnlicher Vorstellungen und Vorstellungskreise, und deren Sättigung mit eigenen Farben bis zur halluzinatorischen Verwirklichung. Hier liegt die eigentliche Stelle der Hysterie in der Geschichte der seelischen Epidemien. Sie ist die gewaltigste visionäre Macht, die wir kennen. Sie ist es vor allem darum, weil sie ihre Visionen bei aller äußeren Anregung aus sich heraus gestaltet, und nicht, wie der Epileptiker, der auch Visionen erlebt, diesen Erscheinungen als passives Opfer gegenübersteht. (…) Mit der hysterischen Seelenveränderung ist das Schöpferische vereinbar, und die Geschichte zeigt uns Gestalten genug, in denen das hysterisch Halluzinatorische im Dienste großer Pläne und großer Verwirklichungen stand. Vielleicht gehört Mohammed hierher (wiewohl seine angeblichen ‚„Anfälle‘“ noch recht sehr der fachmännischen Bearbeitung bedürfen). (S. 80f)
Eine Zeit nun hat die Auswicklung offenbarer Hysterie aus der hysteriegünstigen Seelenverfassung besonders wirksam besorgt: das sterbende Mittelalter. Die häufigen, langwierigen und gewaltig großen, aber auch die dazwischen verstreuten Tausende von kleinen seelischen Epidemien jener Zeit tragen in der Mehrzahl unzweifelhaft hysterisches Gepräge. Trommelsucht, Stigmatisation, Tarantismus, Lykanthropie, Johannistanz: es mag in den Schilderungen der Chronisten vieles daruntergeraten sein, was diesen Dingen nur oberflächlich ähnelte und an sich formloser war, in der Hauptsache scheinen die Bewegungen richtig beobachtet zu sein, und unsere Diagnose wird vorwiegend auf Hysterie lauten. Strengerer Kritik sind eher die Klosterepidemien bedürftig, wo gewiss oftmals nur Erschöpfung durch Askese und mancherlei Hysterieähnliches vorgelegen hat. Wie immer die Verteilung sei, echte Hysterie hat um jene geschichtliche Wende eine ungewöhnlich dominierende Rolle in der seelischen Epidemiebildung gespielt. (S. 84)
Im ruhigen, selbstsicheren Mittelalter, bis zum 13. Jahrhundert, hören wir noch nichts von hysterischen Epidemien. Wir hören nichts mehr von ihnen seit dem Ende des dreißigjährigen Krieges. Es ist deutlich die große Krisis auf allen Lebenslinien, die von 1250 an etwa sich vorbereitet, um 1500 kulminiert und bis 1700 abklingt — die jene krankhaften Wellenbewegungen erzeugt hat. (…) Darum hat auch die Reformation die Epidemien nicht beseitigt, sondern zunächst gesteigert, denn, wie es bei jedem religiösen Zusammenbruch unvermeidlich ist, trug sie Anarchie, Haltlosigkeit, grenzenlose Verwirrung in Tausende von Gemütern, entfesselte nicht bloß den äußeren, sondern auch den inneren religiösen Kampf aufs wildeste. Die Balken des alten Glaubens krachten zusammen, und man klammerte sich, in seiner Hilflosigkeit Gott allein gegenübergestellt, an die Strohhalme, die der neue Glaube ließ: Teufel und Dämonen. Die Scheiterhaufen der Hexenverfolgung illuminierten den Siegeszug der kirchlichen Befreiung. (S. 86)
Ich weiß es nicht besser zu sagen, als ich es kürzlich schon einmal gesagt habe und stelle darum die Sätze aus einem Essay in der „Neuen Rundschau‘ nochmals hierhin: ‚Da ist im Kleinen alles, was einst im Großen war. Und wir stehen davor, wie der Geolog vor seinen Gletschern und Moränen und Findlingsblöcken, die ihn eines der gewaltigsten Stücke Erdgeschichte ahnen und erdeuten lassen. Darum sollte keine Mühe uns zu sauer sein, solche Schauspiele mitanzusehen. Warum entsendet der Staat nicht längst Psychiater dorthin, wo immer eine Epidemie aufglimmt? Er bezahlt doch die Beobachtung einer Sonnenfinsternis und das Studium tropischer Seuchen; ja sogar das platonische Vergnügen, den Pol zu erreichen. Wird die Erforschung der Menschenseele jemals so hoch in Kurs kommen?“ (S. 97)
Das Religiöse gerade ist fast überall und immer in krankhaftem Gewande in die Geschichte eingetreten und hat auf den Flügeln seelischer Massenkrankheit seine Ausbreitung, seine entscheidenden Umbildungen erlebt. Die Wunder liegen dicht bei den Erscheinungen der Hysterie, und die Offenbarung wohnt im psychopathischen Gehäuse. Die Wissenschaft aber hat nicht immer die Grenzen ihrer Aufgabe zu finden gewusst. Sie sind dort, wo die Wertungen anfangen. Wenn das Religiöse aus dem Krankhaften entspross, so hat die Wissenschaft diese Kausalkette darzulegen; und wenn der Glaube sich dagegen wehrt, so ist er befangen und wird er schließlich nachgeben müssen. Nicht aber hat die Wissenschaft, nie und nirgends hat sie zu entscheiden, ob jener Zusammenhang das heilig Gehaltene an seiner Heiligkeit schädige.e. Man muss immer. wieder zu dem alten Vergleich seine Zuflucht nehmen: die Perle ist eine Mißbildung der Muschel, ein Krankheitsprodukt; das hat die Wissenschaft festgestellt; aber wer möchte der Wissenschaft das Recht einräumen, fortzufahren, dass folglich die Perle nichts Schönes sein könne? Jeder würde sie auslachen. Im Bereich der ‚‚geistigen‘‘ Werte ist dieses Grenzbewusstsein noch immer mangelhaft. Noch immer wettern die Philologen gegen die Pathologen, die der Krankheit der Genies nachspüren — als ob Krankhaftigkeit das Geniale beeinträchtigte! — aber freilich, es hat nicht an Pathologen gefehlt, die es so gemeint haben. Der Patholog zeigt eine Offenbarung als hysterische Vision auf; sagt der Priester: unmöglich, es war eine Offenbarung — so ist er im Unrecht; sagt aber der Patholog: es war also keine Offenbarung, sondern Krankheitserscheinungsymptom — so ist auch er im Unrecht. Das Geschehnis ist, wissenschaftlich gesehen, Krankheitserscheinungsymptom, und doch kann niemand dem religiösen Bedürfnis wehren, es als Offenbarung zu bewerten. (S. 98f)
Warum so oft Krankheit der Weg zur Schöpfung, zur Vernichtung, zur Umbildung großer oder kleiner Werte ist: es kann keine Frage der Wissenschaft sein. Es ließe sich denken, daß ein Philosoph diese Frage stellte. Gewiß, eine Metaphysik der Krankheit ist möglich. Sie ist noch nicht geschrieben; aber wenn sie einmal geschrieben wird, so wird sie, wie alle Metaphysik, auf dem Blatte des Glaubens und nicht des Wissens stehen. (S. 100)