Für die beobachteten Tatsachen des individuellen Denkens, Wollens und Fühlend hatten man früh das Bedürfnis einer Erklärung. Man fragte und nannte jede provisorische Antwort psychologische Wissenschaft. Für das Denken, Wollen und Fühlen zwischen den Menschen suchte die ganze christliche Zeit noch keine eigentliche Erklärung, keine psychologische Erklärung wenigstens. Die stärkste soziale Gruppe, der Staat, war in seiner ganzen Erscheinung durch Sitte und Recht ausreichend erklärt. Das Recht war eine schöne Wissenschaft für sich, und die Sitte war so unverständlich wie die natürliche Tatsache, dass es im Sommer warm ist und dass ein Kirschbaum Kirschen trägt. Über die soziale Gruppe des Staates hinaus gab es dann noch die Christenheit, das jeweilig gegenwärtige Reich Gottes auf Erden, und die „Menschheit“, das künftige Reich Gottes aus Erden. Diese beiden Gruppen gehörten, weil man doch nicht glaubhaftes von ihnen sagen konnte, unten den Machtbereich der theologischen Wissenschaft. Eine Einheit der Sprache (eine Einheit zwischen kirchlicher und staatlicher Anschauung) wurde einigermaßen dadurch hergestellt, dass auch das Recht im Staate, besonders aber das Recht des Staates oder das Staatsrecht, mehr theologisch als logisch ausgestaltet war.
Das Bedürfnis nach einer Erklärung der Vorgänge zwischen den Menschen, nach einer Antwort auf soziale Fragen konnte sich erst regen, als die Göttlichkeit der mehr rechtlichen Einrichtungen, die Unabänderlichkeit der sittlichen, religiösen Gebräuche aufhörte, geglaubt und mit Blut und Eisen geschützt zu werden. Revolutionäre Menschen wie Hobbes, Spinoza und Rousseau, Massenbewegungen wie die englische Revolution und dann die große französische Revolution mussten vorausgehen, ehe vorurteilslos nach einer Psyche zwischen den Menschen, nach dem Volksgeist oder der Volksseele, nach einer Erklärung der geltenden Staatsrechte und der geltenden Volkssitte verlangt wurde. Eigentlich erst vor etwa siebzig Jahren wurde als Antwort auf diese Fragen die neue Disziplin der Soziologie geschaffen, durch August Comte. Und weil der unglückliche Begründer und seine tapfersten Nachfolger sogleich (im Gegensatze zu der ewig theoretischen Individualpsychologie) praktische Konsequenzen aus ihrer Wissenschaft ziehen wollten, die Menschheit beglücken wollten, durch die Lehren aus Revolutionen neue Revolutionen hervorrufen wollten, darum merkten sie sehr lange nicht, dass ihre neue Disziplin eine psychologische Wissenschaft war, ein Pendant zur uralten Individualpsychologie. Derjenige Teil ihrer neuen Disziplin war wenigstens psychologisch, der sich mit der nun so wichtig gewordenen Volksseele befasste. Denn auch das Volk wie der Einzelmensch bestand natürlich aus so etwas wie Leib und Seele. Mit dem Volksleibe hatte sich eine andere Wissenschaft zu beschäftigen, die Nationalökonomie. (S. 8ff)
In der Individualpsychologie hatte man zwar oft über eine Definition der Seele gestritten, aber erst nach zweitausenjährigem Streit um den Begriff setzte der Zweifel an der Sache ein, der Zweifel an der Existenz der Seele. Die Psychologie ohne Psyche ist das vorläufige letzte Wort nach so langer Entwicklung. Die Völkerpsychologie eigentlich gleich mit dieser Selbstverspottung. Sie war gleich von Anfang an eine Völkerpsychologie ohne Völkerpsyche. (S. 10)
Sitte und Sprache, Sprache und Sitte sind Erzeugnisse der Volksseele, soziale Erzeugnisse, so oft auch, nachweisbar oder nicht, individuelle Menschen Sprache oder Sitte beeinflusst haben. Die Sprache aber, das Erzeugnis des Volksgeistes, ist wieder zur Werkzeug geworden für Geisteserscheinungen, deren Schöpfer fast immer oder immer Einzelmenschen waren; diese geistigen Erscheinungen gehören aber dennoch zur Sozialpsychologie, weil sie erst durch ihre Massengeltung überhaupt etwas sind. Ich denke natürlich an Poesie, Wissenschaft und Religion. Der eigentliche Religionsstifter ist nicht der, dessen Namen von der Masse seiner Gläubigen göttlich oder halbgöttlich verehrt wird; der Stifter ist diese Masse. Der Prediger in der Wüste ist stumm. Wer vor zweitausend Jahren die Kugelgestalt und gar die Bewegung der Erde lehrte, der schuf keine Wissenschaft, weil die Welt sich von ihm noch nicht belehren lassen wollte, weil die Lehre nicht angenommen wurde. Ein Dichter, dessen Verse niemand liest, ist stumm wie ein Prediger in der Wüste. (…) Neben Poesie und Wissenschaft ist Religion ein Produkt, ein Nebenprodukt der Sprache, auf dem kleinen Gebiete, wo Religion nicht Sitte ist. Mit einzigem Ausschluss des noch viel kleineren Gebietes, wo Religion in besonderen Menschen eine besondere unsagbare Stimmung ist, über die sich also nichts sagen lässt. (S. 18f)
Zwischen Poesie und Wissenschaft besteht ein Gegensatz, der sich am besten am Wesen der Sprache erkennen lässt. In drei starken Bänden bin ich nicht fertig geworden mit der Ausführung, dass die Sprache, gerade wegen der Unsicherheit der Wortkonturen, ein ausgezeichnetes Werkzeug der Wortkunst der Poesie ist; dass aber Wissenschaft als Welterkenntnis immer unmöglich ist, eben weil die feine Wirklichkeit mit den groben Zangen der Sprache nicht zu fassen ist. Aber für die Religion, soweit sie Sprache ist, ist die Sprache gerade recht; die beiden passen zueinander. In der Wissenschaft verrät die Sprache ihre Ohnmacht; in der Poesie zeigt sie die Macht ihrer Schönheit; in der Religion tyrannisiert uns die Macht der Sprache in der nichtswürdigsten Form als Macht des toten Worts, des Totenworts. Religion ist veraltetes Wissen, dessen Worte geblieben sind. Religion ist (oft auch Poesie und „Wissen“) der Ahnenkult der Sprache. (S. 19f)
Der menschliche Leib baut sich, weil er lebt, sein Gehirn auf; eigentlich nicht anderes als ein Volk sich seine Sitte überhaupt, insbesondere seine Sprache, langsam aufbaut. Erblichkeit nennt man die Ursache der Ähnlichkeit beim Einzelmenschen, Nachahmung oder Gewohnheit nennt man die Ursache beim Volke. Nachher aber verschafft das Gehirn dem Individuum die Nahrungsmittel, die der Mensch zur Fortsetzung des Lebens braucht, welches (das Leben) eben dieses Gehirn hervorgebracht hat. Wie die von der Volkssitte geschaffene Sprache durch ihre „Ideale“ langsam eine Volkssitte nach der andern ändert, um das Volksleben behaglicher zu machen. Dass der rückwirkender Einfluss der Sprache auf die Sitte nicht erst etwa zum Ende der sittlichen Entwicklung auftritt, dass vielmehr jede Ursitte in Urzeiten schon unweigerlich an sprachliche Vorstellungen geknüpft sein müsste – keine Familiensitte ohne den Begriff Familie –, das scheint mir den Wert des Vergleichs nicht zu mindern; denn auch die Rückwirkung des Gehirns auf das Leben erfolgt nicht erst am Ende des Lebens, nicht erst zur Zeit der Reife… (S. 25f) Continue reading “Aus: Fritz Mauthner, “Die Sprache” (1906)”