Für die beobachteten Tatsachen des individuellen Denkens, Wollens und Fühlend hatten man früh das Bedürfnis einer Erklärung. Man fragte und nannte jede provisorische Antwort psychologische Wissenschaft. Für das Denken, Wollen und Fühlen zwischen den Menschen suchte die ganze christliche Zeit noch keine eigentliche Erklärung, keine psychologische Erklärung wenigstens. Die stärkste soziale Gruppe, der Staat, war in seiner ganzen Erscheinung durch Sitte und Recht ausreichend erklärt. Das Recht war eine schöne Wissenschaft für sich, und die Sitte war so unverständlich wie die natürliche Tatsache, dass es im Sommer warm ist und dass ein Kirschbaum Kirschen trägt. Über die soziale Gruppe des Staates hinaus gab es dann noch die Christenheit, das jeweilig gegenwärtige Reich Gottes auf Erden, und die „Menschheit“, das künftige Reich Gottes aus Erden. Diese beiden Gruppen gehörten, weil man doch nicht glaubhaftes von ihnen sagen konnte, unten den Machtbereich der theologischen Wissenschaft. Eine Einheit der Sprache (eine Einheit zwischen kirchlicher und staatlicher Anschauung) wurde einigermaßen dadurch hergestellt, dass auch das Recht im Staate, besonders aber das Recht des Staates oder das Staatsrecht, mehr theologisch als logisch ausgestaltet war.
Das Bedürfnis nach einer Erklärung der Vorgänge zwischen den Menschen, nach einer Antwort auf soziale Fragen konnte sich erst regen, als die Göttlichkeit der mehr rechtlichen Einrichtungen, die Unabänderlichkeit der sittlichen, religiösen Gebräuche aufhörte, geglaubt und mit Blut und Eisen geschützt zu werden. Revolutionäre Menschen wie Hobbes, Spinoza und Rousseau, Massenbewegungen wie die englische Revolution und dann die große französische Revolution mussten vorausgehen, ehe vorurteilslos nach einer Psyche zwischen den Menschen, nach dem Volksgeist oder der Volksseele, nach einer Erklärung der geltenden Staatsrechte und der geltenden Volkssitte verlangt wurde. Eigentlich erst vor etwa siebzig Jahren wurde als Antwort auf diese Fragen die neue Disziplin der Soziologie geschaffen, durch August Comte. Und weil der unglückliche Begründer und seine tapfersten Nachfolger sogleich (im Gegensatze zu der ewig theoretischen Individualpsychologie) praktische Konsequenzen aus ihrer Wissenschaft ziehen wollten, die Menschheit beglücken wollten, durch die Lehren aus Revolutionen neue Revolutionen hervorrufen wollten, darum merkten sie sehr lange nicht, dass ihre neue Disziplin eine psychologische Wissenschaft war, ein Pendant zur uralten Individualpsychologie. Derjenige Teil ihrer neuen Disziplin war wenigstens psychologisch, der sich mit der nun so wichtig gewordenen Volksseele befasste. Denn auch das Volk wie der Einzelmensch bestand natürlich aus so etwas wie Leib und Seele. Mit dem Volksleibe hatte sich eine andere Wissenschaft zu beschäftigen, die Nationalökonomie. (S. 8ff)
In der Individualpsychologie hatte man zwar oft über eine Definition der Seele gestritten, aber erst nach zweitausenjährigem Streit um den Begriff setzte der Zweifel an der Sache ein, der Zweifel an der Existenz der Seele. Die Psychologie ohne Psyche ist das vorläufige letzte Wort nach so langer Entwicklung. Die Völkerpsychologie eigentlich gleich mit dieser Selbstverspottung. Sie war gleich von Anfang an eine Völkerpsychologie ohne Völkerpsyche. (S. 10)
Sitte und Sprache, Sprache und Sitte sind Erzeugnisse der Volksseele, soziale Erzeugnisse, so oft auch, nachweisbar oder nicht, individuelle Menschen Sprache oder Sitte beeinflusst haben. Die Sprache aber, das Erzeugnis des Volksgeistes, ist wieder zur Werkzeug geworden für Geisteserscheinungen, deren Schöpfer fast immer oder immer Einzelmenschen waren; diese geistigen Erscheinungen gehören aber dennoch zur Sozialpsychologie, weil sie erst durch ihre Massengeltung überhaupt etwas sind. Ich denke natürlich an Poesie, Wissenschaft und Religion. Der eigentliche Religionsstifter ist nicht der, dessen Namen von der Masse seiner Gläubigen göttlich oder halbgöttlich verehrt wird; der Stifter ist diese Masse. Der Prediger in der Wüste ist stumm. Wer vor zweitausend Jahren die Kugelgestalt und gar die Bewegung der Erde lehrte, der schuf keine Wissenschaft, weil die Welt sich von ihm noch nicht belehren lassen wollte, weil die Lehre nicht angenommen wurde. Ein Dichter, dessen Verse niemand liest, ist stumm wie ein Prediger in der Wüste. (…) Neben Poesie und Wissenschaft ist Religion ein Produkt, ein Nebenprodukt der Sprache, auf dem kleinen Gebiete, wo Religion nicht Sitte ist. Mit einzigem Ausschluss des noch viel kleineren Gebietes, wo Religion in besonderen Menschen eine besondere unsagbare Stimmung ist, über die sich also nichts sagen lässt. (S. 18f)
Zwischen Poesie und Wissenschaft besteht ein Gegensatz, der sich am besten am Wesen der Sprache erkennen lässt. In drei starken Bänden bin ich nicht fertig geworden mit der Ausführung, dass die Sprache, gerade wegen der Unsicherheit der Wortkonturen, ein ausgezeichnetes Werkzeug der Wortkunst der Poesie ist; dass aber Wissenschaft als Welterkenntnis immer unmöglich ist, eben weil die feine Wirklichkeit mit den groben Zangen der Sprache nicht zu fassen ist. Aber für die Religion, soweit sie Sprache ist, ist die Sprache gerade recht; die beiden passen zueinander. In der Wissenschaft verrät die Sprache ihre Ohnmacht; in der Poesie zeigt sie die Macht ihrer Schönheit; in der Religion tyrannisiert uns die Macht der Sprache in der nichtswürdigsten Form als Macht des toten Worts, des Totenworts. Religion ist veraltetes Wissen, dessen Worte geblieben sind. Religion ist (oft auch Poesie und „Wissen“) der Ahnenkult der Sprache. (S. 19f)
Der menschliche Leib baut sich, weil er lebt, sein Gehirn auf; eigentlich nicht anderes als ein Volk sich seine Sitte überhaupt, insbesondere seine Sprache, langsam aufbaut. Erblichkeit nennt man die Ursache der Ähnlichkeit beim Einzelmenschen, Nachahmung oder Gewohnheit nennt man die Ursache beim Volke. Nachher aber verschafft das Gehirn dem Individuum die Nahrungsmittel, die der Mensch zur Fortsetzung des Lebens braucht, welches (das Leben) eben dieses Gehirn hervorgebracht hat. Wie die von der Volkssitte geschaffene Sprache durch ihre „Ideale“ langsam eine Volkssitte nach der andern ändert, um das Volksleben behaglicher zu machen. Dass der rückwirkender Einfluss der Sprache auf die Sitte nicht erst etwa zum Ende der sittlichen Entwicklung auftritt, dass vielmehr jede Ursitte in Urzeiten schon unweigerlich an sprachliche Vorstellungen geknüpft sein müsste – keine Familiensitte ohne den Begriff Familie –, das scheint mir den Wert des Vergleichs nicht zu mindern; denn auch die Rückwirkung des Gehirns auf das Leben erfolgt nicht erst am Ende des Lebens, nicht erst zur Zeit der Reife… (S. 25f)
Aber wohl hat man vielleicht ein Recht, die Sache umzukehren und das Unbekannte, Unsagbare, das durch die Arbeit der Ganglienzellen und der Nervenfasern das Gehirn befähigt, seinen Träger in der umgebenden Welt ein bisschen zu orientieren, – wohl hat man ein Recht, die Elemente dieser Gehirnarbeit in die Begriffe oder Worte der Volkssprache zu lokalisieren. Was am Ende nur eine neue Ausdrucksform wäre für Kants Lehre, dass unsere Weltkategorien von unserer Vernunft abhängig sind. Weil unsere Vernunft ja doch nichts ist als unsere Sprache. Und wenn man nur ja das Metaphorische der ganze Idee nicht außer acht lässt, so könnte man jetzt einen Schritt weiter gehen und – bescheidentlich, ohne Triumphgeschrei, weil es ein Bild bleibt, – in der Volkssprache das entdecken, was bisher in der Sozialpsychologie immer vermisst worden ist: das sensorium commune, das Sensorium zwischen den Menschen. Der Organismus der Volkssprache dient der Volksseele, von welcher wir mancherlei wissen, wirklich fast ebenso wie der Organismus des Gehirns der Individualseele dient, von welcher wir freilich gar nichts wissen.
Die ältere Psychologie, die sich für den Ort des Sensus für das spätere „Sinnesorgan“ das Wort Sensorium gebildet hatte, verstand unter dem sensorium commune das Gehirn, den gemeinsamen Ort aller Sinneswahrnehmungen; es wäre kein zu gewagter Bedeutungswandel, auf Grund der neueren Gehirnphysiologie das gesamte Gehirn ein Sensorium zu nennen, wo dann sensorium commune von selbst zu dem gemeinsamen Denkorgan zwischen den Menschen würde. Ein gemeinsames Denkorgan zwischen den Menschen gibt es nur innerhalb der gleichen Volksgemeinschaft: die Volkssprache. (S. 26f)
Vom Standpunkte der Individualsprache betrachtet, ist die Schrift eine Gefahr, eine Krankheit; sie führt ja zur Schriftsprache, die den Mundarten gegenüber der unmerkliche Anfang des Todes ist. Vom Standpunkte des Volks betrachtet ist die Schrift eine Hülfe; erst in der gemeinsamen Schriftsprache eines großen Volkes ist das sensorium commune zustande gekommen. Die Literatur eines Volkes ist sein Reservegehirn. (S. 28)
Ob es in der Wirklichkeit irgendwo eine greifbare Gravitation, Affinität, greifbare Fluida gibt oder nicht, das werden wir nie erfahren. Dass aber die Volkssprache zwischen den Mitgliedern einer Volksgemeinschaft nur ein Vorgang ist, eine unendlich komplizierte Tätigkeit, kein greifbarer, materieller Organismus, wie das Gehirn der Individualpsychologie, das wissen wir ganz sicher. Allzusicher. (S. 30f)
Wenn nun die Volkssprache das Sensorium communeder Volksgenossen ist, wenn weiter die Vereinigung vieler oder gar aller Erdenvölker ein herrlicher Zukunftstraum ist, so wäre es ja die Utopie aller Utopien, so wäre es die Vorbedingung eines goldenen Zeitalters: alle Völker der Erde zu einem großen sozialen Ganzen in einer künstlichen Welt- oder Universalsprache ein sensorium communissium, ein gemeinsames Menschengehirn zu geben. Eine künstliche Sprache müsste das sein. Denn auf irgend eine der verbreitetesten Sprachen werden sich die anderen Völker freiwillig doch nicht einigen, auch nicht die sog. Weltsprache der Engländer. (S. 32)
Brächten wir es wirklich zu einer Weltsprache, die eine brauchbare, reiche, organische, gebrauchte Sprache wäre, so würde sie sofort nach den bisherigen Nationen in Mundarten, hundert Jahre später in neue Nationalsprachen zerfallen, und wir hätten das alte Gefrett. Wenn‘s nämlich wirklich ein Gefrett ist. (S. 34)
Es geht aber um die Universalsprache genau so, wie um andere Utopien. Immer ist das letzte Ziel schön und preiswert; immer ist die Kritik der bestehenden Zustände berechtigt. Nur eine Kleinigkeit steht in Frage: Ob es einen gangbaren Weg zum Ziele gibt, ob die kurze Strecke zwischen Erde und Mond passierbar ist. (S. 34f)
Die Kritik der bestehenden Volkssprachen ist längst von der Sprachwissenschaft selbst geübt worden. Alle Menschensprachen, die Kultursprachen sowohl die Sprachen der sog. Wilden haben sich irrational, unvernünftig entwickelt. Der Wortvorrat bildet bei keinem Volke einen übersichtlichen wissenschaftlichen Bau, das Wörterbuch deckt sich nie mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit. So lassen sich z.B. die Pflanzennamen der Volkssprachen nicht für eine systematische Botanik, die Namen der Gesteine nicht für eine systematische Mineralogie, die Namen der sog. Elemente, soweit sie allgemein bekannt und Stoffnamen geworden sind, wie Gold, Eisen usw., schon gar nicht für eine systematische Chemie verwenden. Darum hat man auf diesen Gebieten künstliche internationale Sprachen schaffen müssen; man hat entweder die tote lateinische Sprache weitergebildet, oder eine neue Zeichensprache erfunden; einer lebendigen Sprache gehören weder die wissenschaftlichen Namen der Botanik an, noch die Wortungeheuer der neuen Chemie, abgesehen davon, dass die wissenschaftliche Begründung diese beiden Gruppen von Lautgruppen nicht davor schützen wird, eines Tages wissenschaftlich gestürzt zu werden. Ebensowenig deckt sich die Formenlehre der bestehenden Sprachen, die Grammatik, irgendwo mit den Forderungen einer philosophischen Formenlehre. Die eine Sprache ist mit überflüssigen Geschlechtsunterschieden belastet, die andere besitzt überflüssige Beugungsformen des Hauptwort und des Zeitworts, die dritte kann anderswo wichtige Beziehungen gar nicht besonders ausdrücken; und alle Sprachen ohne Ausnahme haben in ihren Formen Ungleichheiten und Unregelmäßigkeiten, die das Erlernen so ungemein erschweren. Das scheint mir aber gerade der Punkt zu sein, der die Fehler der Sprachen von den Fehlern unserer sozialen Zustände wesentlich unterscheidet. Unter gesellschaftlichen Missständen leiden unzählige Menschen, unter der Magelhaftigkeit der Sprachen leiden nur Sprachphilosophen. Es gibt auf der Welt mehr hungernde und beladene andere Menschen als Sprachforscher. Darum ist eine Gesundung der Grammatik keine so dringende Aufgabe, wie etwa eine gute Arbeitergesetzgebung. (S. 35f)
Die bequeme und leichte Universalsprache können wir achten, würdigen, aber wir können sie ebensoweinig lieben, wie wir ein sauberes Skelett zu umarmen wünschen. Das gilt auch für die neueste Weltsprache, das „Esperanto“… (S. 37)
Ist nun also die Forderung einer künstlichen Weltsprache ein unerfüllbarer und wüster Traum, ist dagegen durch die unabsehbare Übersetzungstätigkeit (unübersehbar in den Büchern, zehnmal unübersehbarer in den Zeitungen) wirklich eine gemeinsame Seelensituationen der Kulturvölker, und oft weit über die hinaus, im Entstehen und im Wachsen begriffen; darf ich die Schlagworte dieser Weltseelensituation als Elemente einer heimlichen Weltsprache auffassen: so ist dabei des wichtigsten Umstandes noch gar nicht gedacht, einer Tatsache, über die der Fuß des wandernden Forschers unaufhörlich schreitet und stolpert, an der die Wissenschaft der Forscher trotzdem blind oder teilnahmslos vorübergegangen ist. Ich meine die Tatsache: dass jetzt nur schnell geschieht, was einst langsam geschah, dass ein Volk vom andern nur verhältnismäßig wenige Namen und Dingworte unverändert bezieht, als sog. Fremdwörter, die allmählich zu Lehnwörtern werden können, dass aber die gemeinsame Seelensituation der Kulturvölker, insoweit sie trotz Mord und Krieg vorhanden ist, herbeigeführt worden ist durch den gemeinsamen Besitz von Erfindungen und Entdeckungen, von Kenntnissen und von Scheinkenntnissen, von Ideen, Abstraktionen, Göttern und Fetischen. Durch den gemeinsamen Besitz von Begriffen, die gemeinsam sind wie die chinesischen Schriftzeichen, auch wenn sie bei verschiedenen Völkern an verschiedene Lautgruppen geknüpft sind. Die gemeinsamer Besitz geworden sind durch das weltumspannende Netz einer Bande, die endlos Diebstahl und Entlehnung treibt. Einer Bande von ehrlichen und unehrlichen Leuten, von genialen Erfindern und gierigen Marodeurs, von ganz großen Philosophen und ganz kleinen Zeitungsschreibern, einer Bande, von deren Mitgliedern ein jedes sein winziges Gewerbe treibt, durch Ideen- und Worthandel sein armes Dasein fristet, einzig und allein an die Verwandlungen von Ideen und Worten in Nahrungsmittel denkt, von einer Bedeutung des Sprache für soziale Zwecke oder gar für internationale Zwecke nichts träumt und nichts ahnt, dennoch aber, ahnungslos und schlafbefangen mitarbeitet an dem großen Werke, an der Befreiung des Einzelnen von dem Egoismus der Völker. (S. 44f)
Es wäre wohl einer Untersuchung wert, die eine völker-psychologische Untersuchung sein müsste: Worum bei dem einen Volke eine puristische Reaktion eintrat, bei dem anderen nicht. Sicherlich ist es dabei wichtig, dass die Masse der Entlehnungen nur in die Sprache der oberen Zehntausend eingedrungen war, der Menschen mit mehr internationalem Verkehr; der nationale, in seinen Grenzen gebliebene Grundstock des Volkes empörte sich gegen die Nachahmung des Fremden, weil er nur die Nachahmung des Einheimischen schön und nützlich fand. (S. 51)
Durch unendliche Einübung wird der Gebrauch der Bildungssilben, als des ganzen Sprachbaus, unbewusst, instinktiv, zur zweiten Natur, so dass allerdings der sprechende Mensch sich mit seinem Sprachbau, mit den Bildungssilben seiner Muttersprache noch mehr verwachsen fühlt als mit ihrem Wortschatz, zu dem er in einer Notlage jeden Tag neue Worte vom Nachbar entlehnen kann. Und mit Bewusstsein entlehnt hat. Entlehnungen von Bildungssilben sind in historischen Zeiten selten. Der innere Sprachbau ist oder scheint darum unveränderlicher, nationaler. (S. 52)
Die Schwierigkeit der Übersetzung gehört nicht allein dem religiösen Gebiete an, wenn Übersetzer und Originale räumlich und zeitlich weit getrennten Völkern angehören. Auch Homeros ist eigentlich unübersetzbar; unübersetzbar nicht nur seine Götter, sondern auch die Realien, die Waffen, Geräte und Speisen seiner Helden; unübersetzbar der Rhythmus seines Hexameters. Wenn aber heute Engländer, Deutsche, Franzosen und Italiener, Holländer, Tschechen, Russen ihre neuesten Bücher gegenseitig übersetzen, so geht freilich vom ästhetischen Werte viel verloren, nicht nur aus Dichtungen, aber der Beitrag zur internationalen Seelensituation, den und das Buch geschenkt hat, geht restlos von der einen Sprache in die andere über. (S. 55)
Hätte Kant die alten scholastischen Audrücke beibehalten können, sein Ding-an-sich das Subjekt-an-sich nennen können, dem großen Manne wäre der tiefste Fehler seines Systems erspart geblieben, dass nämlich erst von der menschlichen Vernunft werde, was alle Vorstellungen des Menschen verursacht: die Ausdehnung des Kausalitätsbegriffs aus das Ding-an-sich. Oder vielmehr: Kant wäre dann in die geistreiche Abstrusität seines Schülers Fichte verfallen. (S. 68)
Springen wir in den gegenwärtigen Gebrauch dieser Begriffe hinein, so lässt sich die letzte Frage der Erkenntnistheorie wieder scheinbar scholastisch(tiefster Spekulation wird von Banausen gar oft der Vorwurf der Scholastik gemacht werden) auf die Objekte von uns Subjekten erzeugt? (Eigentlich richtig nur in der Einzahl, von mir, dem einzigen Subjekt.) Oder werden wir Subjekte von den Objekten erzeugt? Sprachkritik allein durchschaut das Spiel dieser Antinomie. Sprachkritik allein fasst unsere Sinne als Zufallssinne und sieht die absolute Notwendigkeit, mit der uns die Objekte zu unseren Vorstellungen von ihnen zwingen, als eine historische Notwendigkeit, also wie alle Historie als einen Zufall. Verwechseln wir diese objektive Notwendigkeit mit objektiver Gesetzmäßigkeit, so verfallen wir dem naiven Realismus der Büchner und Haeckel. Ahnen wir die Unvorstellbarkeit der Objekte und halten wir dabei unsere armen fünf Sinne für die vortrefflichen Werkzeuge einer vortrefflichen Vernunft, so verfallen wir dem theologischen Realismus des skeptischen Idealisten Berkeley. Der sagt: „The ideas imprinted on the senses by the author are called real things“. (S. 71)
Die Sprache ist es, die die Welt in den Beobachter und in dessen Gegenstand zerfällt: in Dinge an und für sich und in Dinge an und für mich. Die Welt aber ist nicht zweimal da. Die Welt ist nur einmal da. Ich bin nichts, wenn ich nicht mein Gegenstand bin. Aber ich habe keinen Gegenstand. Der Gegenstand ist nichts, wenn er nicht in mir ist. Der Gegenstand ist nicht außer mir. Der „Gegenstand“, scheinbar das handgreiflichste auf der Welt, ist mir Recht die Lehnübersetzung eines schwierigen philosophischen Begriffs, Gegenstand ist unbegriffen, das Objekt ist subjektiv. (S. 72f)
Der Staat mag verschiedene Sprachvölker vereinigen, mag Sprachvölker auseinanderreißen. Er ist ein künstliches Gebilde, wenn er nicht genau mit den Grenzen eines Volkes zusammenfällt. Auch dann ein künstliches Gebilde, wenn er ein so erfreuliches Gebilde ist wie die Schweiz. Was im Volke ein gemeinsames Sensorium hat, das ist sozial. Die Raison des Staates ist nicht sozial. Wenn der Staat vor hundert Jahren die Dummheit begangen hat, einen Teil eines fremden Volksstammes zu unterwerfen (es war eine Dummheit vom Staate, auch wenn es ein Machtzuwachs für die Dynastie war), so wird diese Dummheit hundert Jahre später zur Raison, zur Raison des Staates. Nur in diesem Sinne hat Hegel recht mit seinem berühmten Satze, der sonst entweder die Wirklichkeit oder die Vernunft schänden würde: Was wirklich ist, das ist vernünftig. Der Staat ist sittenlos, weil er keine Sprache hat. Der Staat ist nur wirklich, nur vernünftig. Es gib auch kein Wort „Staatsliebe“. Patriotismus oder Vaterlandsliebe ist die Liebe zum eigenen Volke, ist die Liebe zur eigenen Muttersprache. (S. 79)
Das soziale Band der Muttersprache, die Gemeinsamkeit der Seelensituation, bleibt auch dann noch bestehen, wenn die Schönheit und Eigenheit verloren gegangen scheint, wenn die Gemeinsamkeit als zusammengerafft und zusammengeborgt nachgewiesen worden ist. Wie azch die Räuberbande der guten alten Zeit das Gefühl, das moralische Gefühl, ihrer engen Zusammengehörigkeit besaß und Gut und Blut dafür hergab. (S. 82)
Die Macht der Sprache über die Sitte, über die gemeinsten Gewohnheiten menschlichen Handelns hat vorher niemand so zornig erkannt wie Max Stirner in seinem feuerbrünstigen Feuerwerk „Der Einzige und sein Eigentum“. Stirner sagt: „Die Sprache und das Wort tyrannisiert Und am ärgsten, weil sie ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen Uns aufführt“. (…) Für Stirner sind alle großen Worte hassenswerte Gespenster. Dem Einzigen ist wahr, was sein Eigen ist; unwahr das, dem er eigen ist. Er nennt sich einen Umnenschen, weil er nicht der Mensch, der abstrakte Mensch sein will. Was für andere heilig ist, ist für Stirner eine Fessel. Das Volk selbst, auch das Volk des Sozialismus, ist nur der Mensch, wie Stirner einer nicht sein will. Er kann nicht anders, er muss hassen, was dieses Volk ist. Auch die Sprache. Das furchtbare Wort, mit dem Stirner niedriger gezielt hat, gilt auch, gilt erst recht für die Sprache: „Verdaue die Hostie, und Du bist sie los“. Verdaue die Sprache, und du bist sie los; verdaue den Logos, verschlucke das Wort. (…) Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des dämonischen Werkes hat sein Antichristentum unter dem Namen Friedrich Nietzsche fortzuwirken begonnen. Seine Kritik des Liberalismus und des Sozialismus ist heute noch lebendig. Aber Dogmatiker war er wie alle Monomanen. Der Einwurf, dass das Ich eine Illusion sei, hätte ihm seinen Bau arg gestört. (…) Aber Stirner hat nicht gesehen, was doch vielleicht ein Wundt nicht leugnet: dass das Volk nicht weniger real ist als das Individuum, dass etwas Soziales existiert, wirklich, vielleicht wirklicher als das Ich des Einzigen. (S. 83f)
Ich lehre die Befreiung der Menschen von der Sprache als einem untauglichen Erkenntniswerkzeuge; aber ich wüsste nicht, wie man sich befreien könnte von der Macht der Sprache über die Sitte, die Gewohnheit, das Handeln, das Leben. Denn auch Sittenlosigkeit ist nur eine neue Sitte, neues Handeln, Tyrannei einer neuen Sprache. (S. 84)
Der Sprachgebrauch ist kein absoluter Tyrann für die Sprache; sie könnte sonst nicht im ewigen Wanden begriffen sein. Sprachgebrauch ist für die Sprache nicht tyrannischer als andere Gewohnheiten und Moden. Aber die Volkssitte im weitesten Sinne, Glaube und Kultus, Kunst und Wissenschaft, Verkehr und Recht, wird allerdings von der Sprache tyrannisch beherrscht. Denn es gibt keine stärkere und unbeugsamere Autorität als die Sprache. Ich will gar nicht gehen, zu beweisen, dass auch alle anderen Autoritäten sich auf Sprache gründen: die Autoritäten des Priesters, des Königs, des Gesetzes, insbesondere die Autorität des Vaterlandes. (…) Was das Volk irgend kennt, das fügt sich ja der Sprache ein. Das Volk urteilt wie der Richter, der nichts weiß als seine Akten: was nicht in der Sprache ist, das ist nicht auf der Welt. (S. 86)
Es handelt sich auf allen sozialen Gebieten, die der Tyrannei der Sprache unterworfen sind, stets um den gleichen Gegensatz: den Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen. (…) Das Reich des Alten ist die Natur (…) Das Reich des Neuen ist die Kunst (…) Menschensitte und Weltgeschichte – die Geschichte der langsamen Änderungen aller Menschensitte – steht unter der Tyrannei sprachlicher Herren, unter der Tyrannei alter und neuer Worte. Selten nur ballen sich hier die neuen, dort die alten Worte zu ungefähr geschlossenen Gruppen zusammen, so dass es einen großen Kampf gibt, der den Wünschen einer „strategischen“ Ästhetik genügen könnte. Für gewöhnlich gibt es nur ein wirres Durcheinander. Wie im Wahlkampf, wie in einer Bezirksversammlung. (S. 88)
Die gegenwärtigen Worte der Religion oder gar der Theologie sind durchaus Fremdworte, Lehnworte oder Lehnübersetzungen. Alte Worte, gemeinsame Worte. Veraltete Worte, wo die Gemeinsamkeit sich gelockert hat. Neue religiöse Worte gibt es eigentlich nicht in unserer Zeit. Der Instinkt der Gemeinsamkeit scheint auf diesem Gebiete im Erlöschen begriffen. Die Sozialdemokraten glaubten diplomatisch schlau zu handeln, als sie aus Rücksicht auf die Frauen und auf religiös gestimmte Genossen den Satz aufstellten: „Religion ist Privatsache.“ Der Satz ist aber der Religion gefährlicher als ein atheistisches Dogma. Wenn Religion Privatsache geworden ist, individuell, nicht mehr gemeinsam, dann hat Religion aufgehört. (S. 93)
Das politische Schwatzvergnügen ist gewiß so alt als die Existenz von Menschenstaaten auf der Erde. Aber niemals konnte das Aneinanderreihen alter und neuer Worte (in der Politik sind alte und neue Worte gleichwertig, gleich wertlos) so leicht mit Staatsweisheit und Staatsarbeit verwechselt werden, wie in der Gegenwart, die dem Staatsgenossen nicht nur die Redefreiheit, Schwatzvergnügen, sondern auch das Recht aller Rechte, das Wahlrecht, das Stimmrecht gegeben hat. (S. 95)
Die Trennung eines Volkes in Kreise, die nach Weltanschauung oder Sprache durch viele Jahrhunderte getrennt scheinen, ist nicht gleichgültig für den Instinkt der Gemeinsamkeit unter den Volksgenossen. Und der Riss, der klingend durch unsere Zeit geht, lässt sich vielleicht am besten deuten durch wieder eine andere Antinomie, auf die wir jetzt bei der Betrachtung der Macht kommen, welche die Sprache über die Volkssitte ausübt. Es ist kein Wunder, dass die ältesten Worte bei den kulturell (nach Religion, Moral und Erbe) ältesten Schichten des Volkes sind; die zurückgebliebenen Schichten sind also die Hüter der geheiligten Worte, in denen die Gemeinsamkeit des Volkes sich seit Menschengedenken aussprach. Die jüngste Schicht, die der intelligenten Proletarier, hat die jüngsten Worte, überall, in Religion, Moral, Sitte und Recht; diese jüngsten Worte, die neuen Worte des Tages, scheinen vom Instinkte der Gemeinsamkeit verlassen zu sein; sie wären ja sonst keine neuen Worte. Der Instinkt der Gemeinsamkeit darf nicht neuern, er wäre sonst kein Instinkt. (S. 101)
Die Sozialität, d.h. der Gemeinsamkeitstrieb ist dem Menschen angeboren. Der Sozialismus ist doch wohl konsequente Sozialität. Und wenn das neue Wort Sozialismus in schroffen Gegensatz getreten ist gegen die Worte der alten Gemeinsamkeit, so liegt das nur daran, dass der Instinkt der Gemeinsamkeit im Sozialismus seiner selbst bewusst geworden ist und damit freilich aufgehört hat, Instinkt zu sein. (S. 102)
Wer dicke Bücher schreibt, ohne dass es zu seinem Gewerbe gehörte, wird ja irgendwo heimlich die Schellenkappe des Weltverbesserers tragen. (S. 102)
Überall sind die Regierungen, wie Bismarck zugegeben hat, durch die Macht des geeinigten Proletariats gezwungen worden, die dringendsten sozialen Forderungen zu unterstützen. Unverändert geblieben ist nur der ganz natürliche, berechtigte und eigentlich herrliche Neid der proletarischen Eltern gegen die geldbesitzenden Eltern. Die gesamte Stimmung der gesättigten und leidlich behausten Arbeiter gegen die sog. höheren Stände, die oft nicht besser genährt, oft für die Eitelkeit nur besser behaust sind, der Hass des Proletariers gegen Kapitalisten und die Händler, Beamte usw., die dazu gerechnet werden, kommt von dem menschlichsten Neidgefühle: das Proletarierkind kann es bei guten Gaben fast niemals dazu bringen, in die Klasse der Kapitalisten und ihrer Händler und Beamten aufzusteigen. (S. 103)
Der Staat hätte ein höchstes Interesse daran, in zweifacher Weise, dass dieser Neid aufhörte. Die Quelle der idealsten Unzufriedenheit wäre verstopft und dazu dem Staate überall gedient, wenn die begabtesten Proletarierkinder Beamte und Offiziere würden, Ingenieure und Fabrikanten, Professoren und Minister, anstatt dass jetzt unter den Söhnen der bessern Stände allein die Wahl getroffen werden kann und — bei der allgemeinen Gebrechlichkeit oder Korruption der Welt — nicht nur junge Leute von mittlerer Begabung, sondern auch ausgesprochene Dummköpfe, Narren und Lumpen bis in die ersehnte höhere Lebensstellung durchgedrückt werden. (S. 103f)
Der ganze Jugendunterricht ist — wohl kaum aus bösem Willen — für die Erhaltung dieses nichtswürdigen Zustandes eingerichtet. Mehr und mehr, besonders seitdem die Schule von den Jesuiten organisiert worden ist, werden Prüfungen zwischen die Begabung und die höhere Lebensstellung gestellt. Ganz nebenbei sei bemerkt, dass das in China ebenso ist, und dass die Prüfungen für die besten und tüchtigsten Charaktere gefährliche Klippen sind. Nützlich darum für das Uniformbedürfnis aller chinesischen Staaten. Was nun durch diese Prüfungen und Schuleinrichtungen mitgeteilt oder bezeugt werden soll, das sind nach einer Meinung, die im Abendlande und in China ganz allgemein geteilt wird, Kenntnisse. Ich aber behaupte: Die für ein Amt oder eine Stellung erforderlichen Kenntnisse, zu deren Erwerbung für den Sohn aus höheren Ständen 16 bis 18 Jahre angesetzt sind, ließen sich von begabten jungen Leuten — die anderen sollten gerade von unserer darwinistischen Zeit freudig ins Elend gestoßen werden — nach dem Besuch einer guten Volksschule in kürzester Zeit erwerben, in ein bis zwei Jahren. (…) Was gelernt wird, ist wohl zu mehr als dreiviertel, ist beinahe ausschließlich auf der einen Seite Schulkram, Kram für die Schule, wobei man nicht allein an Religionsunterricht und römische Geschichte denken mag. Scholae, non vitae discimus. Auf der andern Seite lernen wir in i6 bis 18 harten Schuljahren, von der ersten Stunde, wo dem armen Kinde mit dem Rohrstock seine Mundart ausgetrieben wird, bis zum Staatsexamen, wo nicht zuletzt auf gebildete Sprache und einen gebildeten Anzug Wert gelegt wird, eigentlich nur die Sprache der ,, höheren“ Stände. Die Kenntnisse für leitende Stellungen könnte sich das begabte Proletarierkind leicht erwerben. Aber die Sprache der leitenden Stände scheint durch Gewohnheit und Nachahmung erblich geworden zu sein wie das Geld erblich ist. Die Sprache der leitenden Stände wird zu den guten Manieren gerechnet, wenn nicht gar die guten Manieren zur Sprache gerechnet werden. (S. 104f)
Die Geldmacht, die in gebildeter Sprache ruht, ist ja offenbar. Man braucht dabei nicht an Gewandtheit in fremden Sprachen zu denken, die für viele Berufe mit Recht ein ökonomischer Vorteil ist. Es ist ganz in Ordnung, dass ein Franzose oder ein Engländer in Deutschland, ein Deutscher in Frankreich oder in England von denen bezahlt wird, die von ihm oder an ihm seine Sprache lernen wollen. Nicht in Ordnung aber ist es, dass unter allen möglichen Bewerbern einer höheren Lebensstellung im eigenen Lande der bevorzugt wird, der erstens einzig und allein die Schriftsprache dieses Landes spricht und beileibe nicht die Sprechsprache schreibt und der zweitens die Standessprache seines ,, höheren“ Berufes beherrscht. Wird man es mir glauben, oder wird man mich nicht verstehen, wenn ich sage: Nicht nur zum Botschafter macht man am schnellsten den Mann, der am geläufigsten in der Botschaftersprache zu reden weiß; auch Richter oder Anwalt, auch Offizier, Professor, Arzt wird am sichersten der, der die Phraseologie des Standes geläufig im Maul hat, die Phraseologie, zu der ganz von selbst auch die Ideen oder die Weltanschauungen des Standes gehören. (S. 105f)
Was wäre das für eine schlechte Goldwäsche, die die unzähligen Sandkörner zu einem Berge häufen, aber die seltenen Goldteilchen alle verloren gehen ließe. Die allgemeine Schule ist ein Werkzeug der Auslese, ein Sieb. Die Korruption der Schule hat den Zweck der allgemeinen Schule verkehrt. Der Sand geht hindurch, das Gold bleibt zurück. (S. 107)
In dem Wesen des Sprechmaterials ist es nun schon mitbegründet, dass die Sprecharbeit rein sozial ist und für gewöhnlich nicht bezahlt werden muss. Diese Arbeit ist so leicht, daß sie als Nebengeräusch des Atmens mühelos nebenbei geleistet wird. Wie bei den neuen Kanonen der sonst lästige Rückstoß zum Laden benützt wird. So mühelos ist die Sprecharbeit, so spielend ist sie seit dem ersten Lebensjahre von den Nerven und Muskeln eingeübt worden, dass die Sprecharbeit weit über ihren Mitteilungszweck hinaus zum beliebtesten Spiel der Menschen geworden ist. Sprecharbeit ist ein Spielvergnügen, unvergleichlich häufiger getrieben als etwa das Tanzen. Das darf uns aber nicht vergessen lassen, daß das Sprechen, ob nützlich oder unnütz, ob notwendig im Dienste der Wissenschaft oder überflüssig im Schwatzvergnügen, immer eine Tätigkeit ist, planvoll, zweckmäßig, wie jedes Verbum. (S.116)
Wo aber ist eigentlich das Werkzeug des Sprechens zu suchen? Seit zweitausend Jahren pflegt man Kehlkopf, Zunge, Lippen usw. die Sprachwerkzeuge zu nennen. Sie sind nur Lautwerkzeuge. Es versteht sich von selbst, dass Sprache — die nicht Sprache ist, wenn sie nicht zugleich etwas bezeichnet, wenn sie nicht Denken ist, — es versteht sich von selbst, dass zu den Sprechwerkzeugen auch das Gehirn gehört. Der Wortstreit darüber, ob ein Sprachvermögen in einer bestimmten Gehirnprovinz lokalisiert sei oder nicht, geht uns hier ganz und gar nichts an. Nicht einmal, ob und wie sich Gehirn und Atemwege nebst einigen Nahrungswerkzeugen zu ihrer gegenwärtigen Form ,, entwickelt“ haben. Genug daran: Gehirn, Kehlkopf, Zunge, Gaumen, Zähne und Lippen, ursprünglich für Atmung, Nahrungsaufnahme und Orientierung in der Außenwelt eingerichtet, haben sich so gestaltet, dass sie als Sprechwerkzeuge dienen können. Oder : Sie haben sich zufällig so gestaltet, dass die Erfindung des Sprechens sich ihrer bedienen konnte.
Haben nun diese Laut- oder Sprechwerkzeuge in Wahrheit ähnliche Eigenschaften wie der Hammer, der den Kessel nietet ? Wenn die Sprechwerkzeuge die Luft bearbeiten, ent¬ steht dann die Sprache so, wie ein Kessel entsteht, wenn die Hämmer das Eisen bearbeiten? Ja und nein. Auch zwischen der Arbeit des Schmiedes und der Herstellung des Kessels liegt ein zweckvoller Plan; ein bewusster, mit Menschenverstand vorgedachter Kesselplan. So freilich auch beim Sprechen, wenn die Lautwerkzeuge die Luft bearbeiten. Höchstens, dass der Plan des Satzes, der zustande kommen soll, im Unbewussten bleibt, gewöhnlich nicht vorbedacht ist. Nur ist der Unterschied hier nicht groß. Es ist Sache der Übung und der Schwierigkeit. Der Nagelschmied hämmert seine unzähligen Nägel wohl auch unbewusst. Und umgekehrt muss ich jeden dieser Sätze gar sehr vorausbedenken und bis in jede Partikel noch zweckvoll gestalten.
Nein, zwischen der Arbeit der Laut- oder Sprechwerk¬ zeuge und der bearbeiteten Luft liegt bei der Sprecharbeit etwas ganz anderes, dessengleichen wir bei andern sozialen Unternehmungen vergeblich suchen würden: das eigentliche Werkzeug, die Sprache. Die alte, in hundert Generationen trotz leiser Änderungen gleiche, milliardenhaft eingeübte, unbewusst gewordene, völlig mühelos geübte Volkssprache. (S. 116ff)
Hrg. Martin Buber, 1906, FfM