Zur Umwälzung der russländischen Staatlichkeit (1)
Von Seepferd
Zwei Ereignisse der letzten Zeit scheinen scheinen für den aktuellen Zustand der russländischen Staatlichkeit symptomatisch bzw. richtungweisend. Wohin aber die Reise geht ist noch nicht ganz klar und wird sich hoffentlich bald klären. Es geht dabei um die Ermordung eines der bedeutendsten und ernst zu nehmenden liberalen Oppositionellen, Boris Nemtsow, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar nicht weit vom Kreml und die Zwangsverheiratung der 17-jährigen Cheda Gojlabijewa mit einem der mächtigsten Polizisten der tschetschenischen Teilrepublik, Nazhud Gutschigow Mitte Mai dieses Jahres. So zynisch das vielleicht klingen mag, sehen wir zunächst ein mal von menschlichen Tragödien ab, die hinter diesen Ereignissen stehen, um den Kontext und die eventuellen Konsequenzen besser in Blick zu bekommen. Denn weder haben Repressionen gegen unliebsame PolitikerInnen, JournalistInnen und Andersdenkende in Russland noch die Zwangsverheiratungen im Kaukasus während der so genannten Epoche der Stabilität aufgehört. Es ist auch (noch) nicht abzusehen, wann sie aufhören. Wollte jemand die „Epoche Putin“ mit dem gesellschaftlichen Stillstand unter Leonid Breschnew vergleichen, müsste man schon zugeben, dass eben dieser Stillstand auf einem ungeheuerlichen Gewaltpotenzial der gesamten Gesellschaft gründet, das ab und dann dermaßen an der Oberfläche ausbricht, dass man es nicht mehr ausblenden kann.
„Die Heiratsfeier des Jahrtausends“, wie sie vom tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow bezeichnet wurde, fand nach langem hin und her, nach zufälligen journalistischen Entdeckungen und offiziellen Dementierungen am 16. Mai statt. Der Glückliche äußerte zunächst seinen Heiratswunsch und setzte die Familie der Glücklichen unter Druck, dann behauptete er auf zahlreiche Nachfrage hin, dass er bereits glücklich verheiratet und damit völlig zufrieden sei; dann hieß es er sei eigentlich geschieden. Bis schließlich der alte Freund Ramsan mit vielen anderen angesehenen Staatsmännern persönlich gratulierte. Die Glückliche, die das Heiratsalter von 18 Jahren noch nicht erreicht hatte – naja – ob sie auf der Feier traditionsgemäß weibliche Keuschheit und Demut darstellte oder aussah, wie eben jemand aussieht, der demnächst mit hoheitlich-staatlicher Erlaubnis vergewaltigt wird, dass kann sich jedeR selbst denken. Das Ganze wäre vermutlich – wie üblich – unter der Schirmherrschaft des tschetschenischen Repressionsapparates reibungslos abgelaufen. Stattdessen blähte sich die Sache zum überregionalen Skandal nur per Zufall auf. Vermutlich entging Cheda nur so dem Schicksal einer „heimlichen Zweitfrau“ eines mächtigen Mannes. (2)
Während sich der Sprecher der präsidialen Administration Tschetscheniens, Magomet Daudow, aus seiner sehr persönlichen Sicht eines gläubigen Muslims für die Legalisierung der Polygamie aussprach (3), übte sich der Pressesprecher des Moskauer Patriarchats, Wsewolod Tschaplin in konservativ-imperialer Nachsicht: „Natürlich, (darf) es in unserer Tradition nur eine Ehefrau geben, in Freude wie in Trauer. Aber noch im Großen Russischen Reich lebten alle Völker nach ihren eigenen Traditionen und es waren unterschiedliche Regeln zulässig. (…) Ich denke, dass eine mögliche Strafverfolgung der Polygamie, oder umgekehrt, ihre Legalisierung vom selben Schlag ist, wie die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, denn das alles zielt auf die Zerstörung der traditionellen Familie“. Die Homosexuallenjägerin im Amt, Jelena Misulina, wollte weder von de facto praktizierten Vielweiberei noch von Zwangsverheiratung von Minderjährigen im Land wissen und meinte, es sei nicht nötig, dass das Parlament sich damit beschäftige, denn so was gäbe es nicht. Schließlich musste sich sogar Putins Pressesprecher dazu äußern. Er sagte allerdings nur, dass sein Amt sich mit Fragen der Eheschließung nicht befasse. (4) Die Tatsache war jedoch längst geschaffen. Continue reading

