Es ist ganz notwendig, auf andere Seiten von Adorno hinzuweisen als die Scholaren und die Orthodoxen, die immer nur die Schokoladenseite des Meisters vorzeigen. Mit Fragen, die sich (bei) eingehender Beschäftigung einstellen, kann begonnen werden.
Hat Adorno nicht Erich Fromm angeschwärzt beim ökonomisch-administrativen Chef der Frankfurter, bei Max Horkheimer, und zwar als Verräter an der Psychoanalyse? Und warum? Weil Fromm, auf der Grundlage der Psychoanalyse, eine analytische Sozialpsychologie entwickelt hat, die die Kritische Theorie instandgesetzt hat, die sozial-psychologische Vermittlung zwischen ökonomischen und politischen Sachverhalten zu untersuchen, im Blick auf Faschismus und Nazismus?
Dass Benjamin in den 30er Jahren ein armer Hund war, der nicht wusste, wie er die Miete auf sein Appartement in Paris bezahlen sollte und wie sich vor Hunger schützen – Adorno, in der Emigration in den USA im Mutterschoß von Horkheimer sitzend, wusste das. Aber mit gewaltigem Aufwand an Rationalisierungen – im psychoanalytischen Sinne dieses Terminus – hat er ihm erklärt, er solle seine Gedankenfreiheit gegenüber ihm und Horkheimer nicht durch das Annehmen von Honorierungen seiner Arbeit aus den Mitteln des Instituts infragestellen. Warum diese Inhumanität und Absurdität?
Herbert Marcuses große philosophische Interpretation der Psychoanalyse – Eros und Kultur, später noch einmal erschienen als Triebstruktur und Gesellschaft – konnte nicht in die Schriftenreihe herausgegeben werden, die das Institut nach dem Zweiten Weltkrieg begründet hat. Warum?
Was für eine Kälte war das, mit der Adorno sich 1967 im Briefwechsel mit Herbert Marcuse dafür entschuldigt hat, dass er die Polizei gegen seine Studenten zur Hilfe rief, weil sie eine Besetzung des Instituts vorhatten? Marcuse hat ihm dahingehend beschieden in seiner Antwort, dass die Teilnahme von kritischen Intellektuellen an Aktionen wie Institutsbesetzungen und Demonstrationen aus dem inneren Kern der Kritischen Theorie heraus, den jeweiligen Umständen entsprechend, eine Forderung der Theorie selber sein kann, und vor allem, dass er, Marcuse, jene Kälte bei sich jedenfalls nicht feststellen könne und daher nicht – wie von Adorno behauptet – „wir alle“ sie hätten. Könnte es sein, dass es sich hier um ein ganz persönliches Problem des Meisters gehandelt hat, das er rationalisiert hat als ein allgemeines, als Fortsetzung der Kälte in der Gesellschaft im einzelnen?
Die Beispiele mögen genügen, um eine Konsequenz zu ziehen: Kritik ist auch hier eine Bedingung dafür, weder schülerhaft noch orthodox, sondern autonom und kreativ mit Adornos Person und Werk umzugehen. Kritik ist, mindestens eine, angemessene Weise, der historischen Kritischen Theorie die Ehre zu geben.
Helmut Thielen, „Warum die Blue Jeans schwarz geworden sind. Nachrufe auf den Zeitgeist der ‚Postmoderne‘“, Berlin 1998