Von Krankheit reden die Leute gern, hören sie gern reden. Und darum ist es denen, die die Menschheit tagtäglich von berufswegen zu unterhalten haben, nicht zu verdenken, wenn sie ihre Bilder und Gleichnisse mit Vorliebe aus dem Schatz der Pathologie wählen. Die Feuilletonisten überm und unterm Strich, der Politik und des Pläsiers reden möglichst viel von Krankheit. Sie reden vom Fieber der Spekulation und von Bildungshypertrophie, von einer Goldplethora und von finanziellen Aderlässen, von den verstopften Poren des Volkskörpers und von einer Embolie der Schlagadern des Verkehrs, von den Geburtswehen einer neuen Epoche und dem Todeskampf eines absterbenden Regimes. Sie reden am meisten und liebsten von einem Geschwür, das am Organismus der Gesamtheit zehre, oder von einer Eiterbeule, die zum Aufstich reif sei, von einem sozialpathologischen Phänomen und von einer geistigen Epidemie. Sie reden täglich davon; und den Geschmackvollen unter den Zuhörern wird es auf die Dauer schon ein bisschen viel. Es ist nicht hübsch, wenn der Doktor in einem fort fachsimpelt. Und es ist nicht gut, wenn auch die harmlosesten Vorgänge des öffentlichen Lebens gewaltsam jodoform- und karbolrüchig gemacht werden. Mit allen solchen Dingen geht es schließlich wie mit Zettel dem Weber, oder um in unseren Tagen zu bleiben, wie mit dem Makler Sigismund Gosch in den „Buddenbrooks‘‘: er möchte ein Mephisto sein, und doch durchschaut ihn jedermann als einen ollen ehrlichen Lübecker. Wenn Tag für Tag jede Partei, ob politisch, künstlerisch, religiös, wirtschaftlich, die andere als das am Volkskörper fressende Leiden diagnostiziert, so ist „Krankheit‘ kein Begriff und kein Bild mehr, sondern einfach ein Schimpfwort, und Schimpfwörter werden bekanntlich nicht dadurch wertvoller, dass man sie möglichst oft wiederholt. (S. 7f)
Der französische Denker Comte hat bekanntlich eine Wissenschaft erfunden — oder besser noch einen Namen für eine Wissenschaft: die Soziologie; und wie es mit jeder erfundenen Wissenschaft geht, es gab bald sehr viele Soziologien, ein Dutzend und mehr, und eine davon war die organizistische. Die lehrte, die Gesellschaft sei ein Organismus und die verschiedenen Institutionen: Regierung, Schulen, Banken, Armee, Kirche usw. seien die einzelnen Organe. Das Bild wurde hier und da recht hübsch, und hier und da recht gewaltsam, und hier und da sogar unappetitlich durchgeführt; denn es ist schließlich kein Vergnügen für irgend eine Institution, sich als den Urin oder den After des Volksganzen betrachtet zu wissen. Der Organismus konnte selbstverständlich erkranken. Und die Bilderserie, die man hiefür entwarf, führte die Etikette „Soziale Pathologie und Therapie‘‘. So ist z.B. der unlautere Wettbewerb eine Kinderkrankheit des Kapitalismus (ob Zahnkrämpfe, Brechdurchfalloder Rachitis, hat man, soviel ich sehe, nicht entschieden). Wie gesagt, das war alles ganz amüsant, aber wie jemals jemand darin eine wissenschaftliche Leistung hat sehen können, das gehört zu jenen Rätseln, die auch im Denken der von Beruf Denkenden niemals gefehlt haben. (S. 8f)
Es gibt nämlich Erscheinungen im menschlichen Seelenleben, deren Eigenart gar nicht besser bezeichnet werden kann, als wenn man sie sozialpathologisch, völkerpathologisch, gemeinschaftspathologisch nennt. Ja, man kann sie beim besten Willen eigentlich nicht anders taufen. Aber in welchen begrifflichen Sumpf gerät man nun mit solcher Benamsung! (S. 9f) Continue reading