Alexej Borowoj
(geschrieben Anfang des 20. Jh.)
Bekam der Rationalismus auf dem Feld der abstrakten Arbeit heute den stärksten Schlag von Philosophie Bergsons, so wurde im Praktischen der Syndikalismus zu seinem erbittertesten Feind. Dieser hat die dogmatischen Fesseln der Parteien und Programme abgestreift und ist von der Symbolik der Repräsentation zur selbstständigen Arbeit übergegangen.
In der Bestimmung der Charakteristik des revolutionären Syndikalismus sollte mensch [aber] vorsichtig sein.
Um die Natur [des Syndikalismus] richtig einzuschätzen, muss mensch sich die tiefe Kluft zwischen dem Syndikalismus als eine Form der Arbeiterbewegung, die über eine proletarische Klassenorganisation verfügt, und dem [Syndikalismus] als der (einer?) “neuen Schule” des Sozialismus, dem “Neomarxismus”, welcher eine theoretische Weltanschauung darstellt, die auf den Fundament der kritischen Reflexion über den Arbeitersyndikalismus gewachsen ist, unterscheiden.
Das sind zwei verschiedene Welten, die voneinander unabhängig existieren; dieser Umstand wird allerdings von Forschern und Kritikern des Syndikalismus immer noch nicht ausreichend beachtet.
An dieser Stelle soll uns nur der “proletarische Syndikalismus” interessieren.
Seine Entwicklung baute auf folgenden Hauptprinzipien auf:
a) der Primat der Bewegung vor der Ideologie;
b) Freiheit der schöpferischen Selbstbehauptung der Klasse;
c) Autonomie des Individuums in der Klassenorganisation.
Alle Gedankengebäude des Marxismus fußten auf der Überzeugung, dass es möglich sei, allgemeine, d.h. abstrakte Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen und daraus folgernd soziologische Prognosen aufstellen.
Der Syndikalismus ist gemäß seiner Natur der vollkommene Verzicht auf jegliches soziologische Rezept. Der Syndikalismus ist eine unendlich fließende Schöpfung, die sich nicht im Rahmen einer absoluten Theorie oder einer vorbestimmten Methode einengen lässt. Der Syndikalismus ist eine Bewegung, die seine weitere Entwicklung bestimmenden und seine Richtung diktierende Stimuli in sich selbst sucht und findet; nicht die Theorie beherrscht die Bewegung, sondern Theorien werden in ihm geboren und sterben auch ebenda.
Der Syndikalismus ist ein Prozess unaufhörlicher Entfaltung proletarischen Selbstbewusstseins. Er zwingt seinen Anhängern keine unveränderlichen Losungen auf, vielmehr lässt er ihnen einen genauso großen Spielraum für freie positive Schöpfung ebenso wie für freie zerstörerische Kritik. Er kennt keine “verba magistri“, auf die zumindest proletarische politische Parteien schwören. Im Gegensatz zum genanntem Parteikatechismus, der, “zuvorkommend” wie er ist, auf jede Frage, die bei seinen Gläubigen auch nur entstehen könnten, bereits eine Antwort parat hält, pulsiert im Syndikalismus wütende Lebensfreude, die bereit ist, mit allen Waffen jede Frage zu beantworten, es dabei jedoch vermeidet, sich in schwerfällige dogmatische Rüstung[en] zu kleiden. In einer politischen Partei ist der Proletarier ein Ausführender, der an parteiliche Formalitäten, Berechnungen, Intrigen gebunden ist; im Syndikalismus ist er ein Schöpfer, dessen Wille von niemandem bestritten wird.
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