Einführendes zur Grossman-Roschtschins Kritik an Kropotkin

[Wir wurden gebeten, eine Art Erklärung zu dieser Kritik an Kropotkin zu schreiben, denn sie sei ohne Weiteres nicht zu verstehen. Was wohl stimmt. Hiermit ist’s geschehen und in der Februarausgabe der GaiDao erschienen. – liberadio]

Es wohl werden einige erklärenden Worte nötig sein, um die Gorssman-Roschtschins Kritik an P. A. Kropotkins Begründung des Anarchismus einzuordnen. Es scheint mir nicht besonders sinnvoll, darauf eine „Antwort“ oder eine „Entgegnung“ zu schreiben. Es macht keinen Sinn, gegen einen längst Verstorbenen zu polemisieren. Jedoch eine eine Erklärung oder Deutung dieses durchaus interessanten Dokuments scheint mir angebracht.

Es handelt sich nämlich um eine Art kritische Würdigung von Kropotkins Werk, obwohl es dem Autor deutlich daran liegt, eine scharfe Kritik an Kropotkins umstrittener „patriotischer“ Wende im 1. Weltkrieg zu formulieren und sie eben aus dessen Theorie abzuleiten. Continue reading

Zur Kritik der Grundlagen der Lehre P. A. Kropotkins

Jehuda Solomonowitsch Grossman-Roschtschin

[In der Kropotkin-Kritik von Grossman-Roschtschin (1883-1934) spürt mensch deutlich die theoretische Position, die Grossman ab 1921-22 eingenommen hat. Vor allem das ganze Gerede vom Weltproletariat, das unter wissenschaftlicher Anleitung der Partei alles richtig macht… In der ersten Russischen Revolution stand er noch auf anarchistischen Positionen, machte bei Gruppen „Brot und Freiheit“ in Genf und „Der schwarze Banner“ in Kiew mit. Später wendete er sich dem revolutionären Syndikalismus zu, 1919 kämpfte er auf der Seite der Makhno-Armee. Nach seiner Wendung zum Bolschewismus arbeitete er bei RAPP (Russländische Assoziation proletarischer Schriftsteller) und verfasste mehrere Bücher über die sog. proletarische Literatur und Kunst im Allgemeinen. – liberadio]

 

Kropotkin wurde zu seiner Zeit viel diskutiert, aber wenig studiert. Die russischsprachige Literatur über Kropotkin ist äußerst dürftig. Natürlich kann man auf die Wiedergabe der Theorie bei Elzbacher verweisen, oder bei Zoccoli, aber diese Wiedergabe ist eher ein photographisches Abbild als ein Portrait; dieses fleißige Zitieren hat nichts zu tun mit dem tiefen Begreifen und selbständigen Durcharbeiten des Kropotkinismus. Einmal hat Herr Dioneo fleißig, obschon sehr fade, auf den Seiten des „Russkoje Bogatstwo“ über das Buch „Gegenseitige Hilfe“ referiert. G. Karejew hat auch das wahrlich großartige, die Aufmerksamkeit der ganzen sozialistischen Welt genießende Buch „Die französische Revolution“ wiedergegeben und teilweise kritisiert (nicht ganz gelungen, wie er selbst später zugab). Der Soziologe De Roberty schrieb einen kleinen Essay über Kropotkin, zudem hat auch Basarow in seiner Broschüre nebenher einige Anmerkungen zur naturwissenschaftlichen Methode gemacht. Und das ist alles. Ich lasse die neulich im Verlag „Golos truda“ erschienene Aufsatzsammlung „P. A. Kropotkin“ unter der Redaktion von Genossen Borowoj und Lebedjew beiseite. Diese Aufsatzsammlung bringt etwas Wesentliches in die Literatur über Kropotkin.

Ich persönlich musste relativ viel über Kropotkin schreiben.

Merkwürdig: Ich war nie ein Kropotkin-Anhänger, habe den Kropotkinismus in Vorträgen und Referaten bekämpft; aber über Kropotkin schreiben musste ich eher dogmatisch – ich fühlte, dass man erst ein tieferes Verständnis und Urteil über das System liefern sollte, bevor man zur fruchtbaren Kritik übergehen könnte. Nur in meinen Artikeln, die dem Kampf gegen pro-imperialistische Positionen Kropotkins während des imperialistischen Krieges gewidmet sind, kritisiere ich Kropotkin, wo ich die Selbstwidersprüche Kropotkins offenlege. (Interessierte verweise ich auf die Broschüre „Eine Charakterisierung des Werks von P. A. Kropotkin“, „Gedanken über Kropotkins Werk“ in der bereits erwähnten Aufsatzsammlung im Verlag „Golos truda“, „Rede am Grab Kropotkins“ ebenda und „Die Zweideutigkeit der Position Kropotkins in „Zhisn’ dlja wsech“ 1918).

Betrachten wir die Hauptvoraussetzungen der Lehre von Pjotr Aleksejewitsch Kropotkin. Continue reading

“Es erinnert mich an Februar in Libyen…”

[Wie es aussieht, müssen wir das alte Interview doch noch hierher rüberretten, auf der Seite der FdA ist es verschwunden, der BiKri-Blog wurde von blogsport gelöscht, damit ging auch ein Teil wenn nicht Bewegunggeschichte, dann wenigstens einer Geschichte der Unruhe in Würzburg. Das Interview hat zwar nichts mit Würzburg zu tun, wir haben’s damals eher gemacht, weil schon abzusehen war, dass wir gegen die dummen StudentInnen dieser Stadt verlieren, da zog man sich zurück aufs Philosophenstübchen und befasste sich virtuell mit der weiten Welt. Andererseits ausgerechnet 2011 haben sich an vielen Orten der Welt Dinge aufgemacht, die man auch in der deutschen Provinz nicht mehr hätte ignorieren können. Hier ist ein Stück der neueren Geschichte der Unruhe in Russland. Schließelich um die Zeit warb die Stadt Würzburg für sich mit dem Motto “Provinz auf Weltvineau”. Und da waren wir halt. Unser Dank fürs Aufbewahren geht somit an den Syndikalismus.tk-Blog, vielen Dank Leute! Und ja, fuck KRAS-IAA! – liberadio, Sept. 2023]

 

 

(Einleitung von Syndikalismus.tk) Leider wissen wir viel zu wenig über die anarchistische Bewegung Russlands. Dieses Interview versucht ein wenig Licht in das Dunkel unserer Unwissenheit zu bringen. Das Interview wurde mit jmd. aus der „Anarchistischen Gruppe der Moskauer Region (PGA)“ geführt. Bis zu einem Konflikt in der „Assoziation der Bewegungen der AnarchistInnen (ADA)“ war sie dort Mitglied. Zur PGA, dem Konflikt in der ADA, zur aktuelle ökonomische und politische Situation in Russland, zur Situation in der libertären / anarchistischen Bewegung Russlands, zuraktuelle Lage der Proteste nach den Wahlen, zur Sozialstruktur der Wahl-Protesten in Russland und welche Hilfe aus dem europäischen Ausland von den Bewegungen kommen könnte, gibt das interview ausführliche und tiefe Einblicke. –

„Es erinnert mich an Februar in Libyen…“ Interview mit einem Anarchisten aus Russland

Lass uns damit beginnen, dass du dich selbst kurz vorstellst und über deine Gruppe erzählst.

Hallo erst ein mal. Ich repräsentiere Anarchistische Gruppe aus Moskauer Region (PGA), die, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, seit 2008 existiert. Bis vor kurzem waren wir Mitglied in der Assoziation der Bewegungen der AnarchistInnen (ADA), aber aufgrund von Konflikten waren wir gezwungen, die Mitarbeit in dieser Organisation aufzukündigen (obwohl einige von uns da immer noch sind). Unsere ideologische Zugehörigkeit ist schwer zu beschreiben, ich kann nur eines sicher sagen – dass alle GenossInnen sich selbst als AnhängerInnen des sozialen Anarchismus ansehen, seien es Syndikalisten, Kommunisten oder Individualisten. Wir treten immer für direkte Demokratie und soziale Gerechtigkeit ein und stehen für antiimperialistische Positionen (denn Russland scheint uns ein viel gefährlicheres Imperium als die USA). Die Gruppe leistet seit Jahren agitatorisch-propagandistische Arbeit, gibt Flugblätter und Zeitungen mit geringer Auflage heraus. Insgesamt handeln wir nicht so wie die Mehrheit russischer AnarchistInnen – schlecht besuchten Kundgebungen mit Elementen von Punk-Konzerten haben wir schon immer Treffen mit streikenden Arbeitern oder Einwohnern, die für den Erhalt von Parks und Wäldern kämpfen (ein sehr brisantes Thema in Russland), vorgezogen; Aktionen gegen den Krieg in Tschetschenien, landesweite Kampagnen für Arbeiterrechte (die von Mitgliedern der Konföderation Revolutionärer Anarcho-SyndikalistInnen – IAA z.B. vernachlässigt und in Grund und Boden kritisiert werden). So ungefähr.

Könntest du die aktuelle ökonomische und politische Situation in Russland beschreiben? Anders gesagt, wie sehen die Anarchisten der PGA das heutige Russland?

Naja, es ist ziemlich einfach – wir sind der Meinung, dass wir ein ziemlich offen autoritäres staatskapitalistisches Regime haben. Große Konzerne sind so stark in den Machtapparat eingebunden, dass nicht einmal klar ist, was zuerst da war – entweder hat der Staat sich Anteile in diesen Unternehmen unter die Nägel gerissen, oder haben die Unternehmen eigene Leute in führende Posten gesetzt. Medwedjew z.B. war eine Weile lang in der Führungsebene von „Gasprom“, des mächtigsten Konzerns in Russland. Und fast jeder Direktor eines Industrie- oder landwirtschaftlichen Betriebs oder einer Bildungseinrichtung ist Mitglied der Partei „Einiges Russland“. Sieht der UdSSR ähnlich, die die Planwirtschaft gegen etwas anderes eingetauscht hat (als freien Markt kann man unsere Wirtschaft wohl nicht bezeichnen).

Hinsichtlich der politischen Freiheit ist es im Prinzip genau so schlimm: für das Anbringen von Flugblättern kann man einfach 5 Tage Arrest bekommen, Druckereien sind für das Drucken von politisch heikler Literatur unzugänglich, das Internet wird in Bildungseinrichtungen oder mancherorts sogar in privater Nutzung zensiert. Aber seit Dezember dieses Jahres wackelt die Macht und ist gezwungen worden, sich unter dem Druck von großen Demonstrationen zurück zu ziehen. Außerdem möchte ich anmerken, dass bereits seit 10 Jahren in den südlichen Regionen ein bewaffneter Konflikt entlang der Linie Polizeieinheiten / Partisanen von Kaukasus andauert. Wir neigen nicht dazu, dies für Aktivitäten einer mysteriösen Al-Qaida zu halten, daran ist in erster Linie die brutale und zynische Politik der Machthaber schuld. Was die soziale Lage angeht – damit ein durchschnittlicher russischer Bürger sich z.B. ein modernes Fernsehgerät kaufen kann, muss er 2-3 Monate was vom Lohn zurücklegen, häufiger ein halbes Jahr lang. Um eine Wohnung zu kaufen, muss man entweder Jahrzehnte lang sparen, oder einen Kredit bei einer Bank aufnehmen. Damit will ich keine Statistiken auspacken, sondern am Beispiel zu zeigen, was und wie bei uns passiert.

Wie ist die Situation in der libertären / anarchistischen Bewegung Russlands (oder der ehemaligen UdSSR)?

Lass mich über Russland erzählen. Die Situation ist in der Tat katastrophal. Die Bewegung kann man in vier Tendenzen aufteilen. Continue reading

Sozialphilosophie des revolutionären Syndikalismus

Alexej Borowoj

(geschrieben Anfang des 20. Jh.)

Bekam der Rationalismus auf dem Feld der abstrakten Arbeit heute den stärksten Schlag von Philosophie Bergsons, so wurde im Praktischen der Syndikalismus zu seinem erbittertesten Feind. Dieser hat die dogmatischen Fesseln der Parteien und Programme abgestreift und ist von der Symbolik der Repräsentation zur selbstständigen Arbeit übergegangen.

In der Bestimmung der Charakteristik des revolutionären Syndikalismus sollte mensch [aber] vorsichtig sein.

Um die Natur [des Syndikalismus] richtig einzuschätzen, muss mensch sich die tiefe Kluft zwischen dem Syndikalismus als eine Form der Arbeiterbewegung, die über eine proletarische Klassenorganisation verfügt, und dem [Syndikalismus] als der (einer?) “neuen Schule” des Sozialismus, dem “Neomarxismus”, welcher eine theoretische Weltanschauung darstellt, die auf den Fundament der kritischen Reflexion über den Arbeitersyndikalismus gewachsen ist, unterscheiden.

Das sind zwei verschiedene Welten, die voneinander unabhängig existieren; dieser Umstand wird allerdings von Forschern und Kritikern des Syndikalismus immer noch nicht ausreichend beachtet.

An dieser Stelle soll uns nur der “proletarische Syndikalismus” interessieren.

Seine Entwicklung baute auf folgenden Hauptprinzipien auf:

a) der Primat der Bewegung vor der Ideologie;

b) Freiheit der schöpferischen Selbstbehauptung der Klasse;

c) Autonomie des Individuums in der Klassenorganisation.

Alle Gedankengebäude des Marxismus fußten auf der Überzeugung, dass es möglich sei, allgemeine, d.h. abstrakte Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen und daraus folgernd soziologische Prognosen aufstellen.

Der Syndikalismus ist gemäß seiner Natur der vollkommene Verzicht auf jegliches soziologische Rezept. Der Syndikalismus ist eine unendlich fließende Schöpfung, die sich nicht im Rahmen einer absoluten Theorie oder einer vorbestimmten Methode einengen lässt. Der Syndikalismus ist eine Bewegung, die seine weitere Entwicklung bestimmenden und seine Richtung diktierende Stimuli in sich selbst sucht und findet; nicht die Theorie beherrscht die Bewegung, sondern Theorien werden in ihm geboren und sterben auch ebenda.

Der Syndikalismus ist ein Prozess unaufhörlicher Entfaltung proletarischen Selbstbewusstseins. Er zwingt seinen Anhängern keine unveränderlichen Losungen auf, vielmehr lässt er ihnen einen genauso großen Spielraum für freie positive Schöpfung ebenso wie für freie zerstörerische Kritik. Er kennt keine “verba magistri“, auf die zumindest proletarische politische Parteien schwören. Im Gegensatz zum genanntem Parteikatechismus, der, “zuvorkommend” wie er ist, auf jede Frage, die bei seinen Gläubigen auch nur entstehen könnten, bereits eine Antwort parat hält, pulsiert im Syndikalismus wütende Lebensfreude, die bereit ist, mit allen Waffen jede Frage zu beantworten, es dabei jedoch vermeidet, sich in schwerfällige dogmatische Rüstung[en] zu kleiden. In einer politischen Partei ist der Proletarier ein Ausführender, der an parteiliche Formalitäten, Berechnungen, Intrigen gebunden ist; im Syndikalismus ist er ein Schöpfer, dessen Wille von niemandem bestritten wird.

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