[Wie es aussieht, müssen wir das alte Interview doch noch hierher rüberretten, auf der Seite der FdA ist es verschwunden, der BiKri-Blog wurde von blogsport gelöscht, damit ging auch ein Teil wenn nicht Bewegunggeschichte, dann wenigstens einer Geschichte der Unruhe in Würzburg. Das Interview hat zwar nichts mit Würzburg zu tun, wir haben’s damals eher gemacht, weil schon abzusehen war, dass wir gegen die dummen StudentInnen dieser Stadt verlieren, da zog man sich zurück aufs Philosophenstübchen und befasste sich virtuell mit der weiten Welt. Andererseits ausgerechnet 2011 haben sich an vielen Orten der Welt Dinge aufgemacht, die man auch in der deutschen Provinz nicht mehr hätte ignorieren können. Hier ist ein Stück der neueren Geschichte der Unruhe in Russland. Schließelich um die Zeit warb die Stadt Würzburg für sich mit dem Motto “Provinz auf Weltvineau”. Und da waren wir halt. Unser Dank fürs Aufbewahren geht somit an den Syndikalismus.tk-Blog, vielen Dank Leute! Und ja, fuck KRAS-IAA! – liberadio, Sept. 2023]
(Einleitung von Syndikalismus.tk) Leider wissen wir viel zu wenig über die anarchistische Bewegung Russlands. Dieses Interview versucht ein wenig Licht in das Dunkel unserer Unwissenheit zu bringen. Das Interview wurde mit jmd. aus der „Anarchistischen Gruppe der Moskauer Region (PGA)“ geführt. Bis zu einem Konflikt in der „Assoziation der Bewegungen der AnarchistInnen (ADA)“ war sie dort Mitglied. Zur PGA, dem Konflikt in der ADA, zur aktuelle ökonomische und politische Situation in Russland, zur Situation in der libertären / anarchistischen Bewegung Russlands, zuraktuelle Lage der Proteste nach den Wahlen, zur Sozialstruktur der Wahl-Protesten in Russland und welche Hilfe aus dem europäischen Ausland von den Bewegungen kommen könnte, gibt das interview ausführliche und tiefe Einblicke. –
„Es erinnert mich an Februar in Libyen…“ Interview mit einem Anarchisten aus Russland
Lass uns damit beginnen, dass du dich selbst kurz vorstellst und über deine Gruppe erzählst.
Hallo erst ein mal. Ich repräsentiere Anarchistische Gruppe aus Moskauer Region (PGA), die, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, seit 2008 existiert. Bis vor kurzem waren wir Mitglied in der Assoziation der Bewegungen der AnarchistInnen (ADA), aber aufgrund von Konflikten waren wir gezwungen, die Mitarbeit in dieser Organisation aufzukündigen (obwohl einige von uns da immer noch sind). Unsere ideologische Zugehörigkeit ist schwer zu beschreiben, ich kann nur eines sicher sagen – dass alle GenossInnen sich selbst als AnhängerInnen des sozialen Anarchismus ansehen, seien es Syndikalisten, Kommunisten oder Individualisten. Wir treten immer für direkte Demokratie und soziale Gerechtigkeit ein und stehen für antiimperialistische Positionen (denn Russland scheint uns ein viel gefährlicheres Imperium als die USA). Die Gruppe leistet seit Jahren agitatorisch-propagandistische Arbeit, gibt Flugblätter und Zeitungen mit geringer Auflage heraus. Insgesamt handeln wir nicht so wie die Mehrheit russischer AnarchistInnen – schlecht besuchten Kundgebungen mit Elementen von Punk-Konzerten haben wir schon immer Treffen mit streikenden Arbeitern oder Einwohnern, die für den Erhalt von Parks und Wäldern kämpfen (ein sehr brisantes Thema in Russland), vorgezogen; Aktionen gegen den Krieg in Tschetschenien, landesweite Kampagnen für Arbeiterrechte (die von Mitgliedern der Konföderation Revolutionärer Anarcho-SyndikalistInnen – IAA z.B. vernachlässigt und in Grund und Boden kritisiert werden). So ungefähr.
Könntest du die aktuelle ökonomische und politische Situation in Russland beschreiben? Anders gesagt, wie sehen die Anarchisten der PGA das heutige Russland?
Naja, es ist ziemlich einfach – wir sind der Meinung, dass wir ein ziemlich offen autoritäres staatskapitalistisches Regime haben. Große Konzerne sind so stark in den Machtapparat eingebunden, dass nicht einmal klar ist, was zuerst da war – entweder hat der Staat sich Anteile in diesen Unternehmen unter die Nägel gerissen, oder haben die Unternehmen eigene Leute in führende Posten gesetzt. Medwedjew z.B. war eine Weile lang in der Führungsebene von „Gasprom“, des mächtigsten Konzerns in Russland. Und fast jeder Direktor eines Industrie- oder landwirtschaftlichen Betriebs oder einer Bildungseinrichtung ist Mitglied der Partei „Einiges Russland“. Sieht der UdSSR ähnlich, die die Planwirtschaft gegen etwas anderes eingetauscht hat (als freien Markt kann man unsere Wirtschaft wohl nicht bezeichnen).
Hinsichtlich der politischen Freiheit ist es im Prinzip genau so schlimm: für das Anbringen von Flugblättern kann man einfach 5 Tage Arrest bekommen, Druckereien sind für das Drucken von politisch heikler Literatur unzugänglich, das Internet wird in Bildungseinrichtungen oder mancherorts sogar in privater Nutzung zensiert. Aber seit Dezember dieses Jahres wackelt die Macht und ist gezwungen worden, sich unter dem Druck von großen Demonstrationen zurück zu ziehen. Außerdem möchte ich anmerken, dass bereits seit 10 Jahren in den südlichen Regionen ein bewaffneter Konflikt entlang der Linie Polizeieinheiten / Partisanen von Kaukasus andauert. Wir neigen nicht dazu, dies für Aktivitäten einer mysteriösen Al-Qaida zu halten, daran ist in erster Linie die brutale und zynische Politik der Machthaber schuld. Was die soziale Lage angeht – damit ein durchschnittlicher russischer Bürger sich z.B. ein modernes Fernsehgerät kaufen kann, muss er 2-3 Monate was vom Lohn zurücklegen, häufiger ein halbes Jahr lang. Um eine Wohnung zu kaufen, muss man entweder Jahrzehnte lang sparen, oder einen Kredit bei einer Bank aufnehmen. Damit will ich keine Statistiken auspacken, sondern am Beispiel zu zeigen, was und wie bei uns passiert.
Wie ist die Situation in der libertären / anarchistischen Bewegung Russlands (oder der ehemaligen UdSSR)?
Lass mich über Russland erzählen. Die Situation ist in der Tat katastrophal. Die Bewegung kann man in vier Tendenzen aufteilen. Continue reading ““Es erinnert mich an Februar in Libyen…”” →