Bd. 1, FfM 1992
Die zerntralisierende Administration vollendete, was sie ökonomischen Verhältnisse begonnen hatten – eigentlich kam zu der privatrechtlichen die öffentlichrechtliche Ökonomie hinzu: der neue Staat brauchte für seine Einrichtungen mehr Geld, das wenig bevölkerte Land brauchte Arbeitshände, das Heer Soldaten,, und so wurde der Bauer „befestigt“ – „Befestigung“ (prikrĕplenie) ist der russische Ausdruck für die Hörigkeit und Schollenpflichtigkeit, aber auch für die Leibeigenschaft, due sich aus der Hörigkeit bald entwickelte. (S. 29)
Die russische Leibeigenschaft ist von der europäischen dadurch verschieden, dass sie ältere Mirverfassung beibehalten wurde; aber der Mir und sein Agrarkommunismus hat eine andere wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung erlangt. Die wachsende Macht des Großfürsten und Zaren zeitigte die Vorstellung, der gesamte Boden sei sein Eigentum und werde den Gutsherren und durch diese den Bauern zu Nutznießung überlassen; faktisch waren die Gutsherren neben dem Großfürsten Eigentümer des Bodens, sowohl ihres Familiengutes als auch des Bauerngutes. Der Gutsherr konnte darum des Bauer aus der Gemeinde nach dem Belieben wegnehmen und hineinbringen.
Der zentralisierte Staat benutzte den Mir fiskalisch dadurch, dass er die Steuern von der ganzen Gemeinde, nicht von den einzelnen Bauern eintrieb; diese Gemeinbürgschaft hat den Mir fester gefügt und ihm eine gewisse Macht über den einzelnen verliehen; aber die Theorie, der Mit sei überhaupt aus der Gemeinbürgschaft entstanden, ist unrichtig. (S. 31)
Das Christentum konnte von den Russen nicht geistig aufgefasst werden, dazu fehlte ihnen die Bildung – in Byzanz, in Rom wurde das gebildete, philosophisch geschulte Volk christianisiert, die späteren westlichen Völker haben an der römischen Bildung teilgenommen; die Russen waren ganz unvorbereitet, was sollte ihnen die byzantinische Gottesgelehrsamkeit und theologische Religionsphilosophie? Die Russen nahmen darum von Byzanz vorwiegend den Kultus und Kirchenzucht auf. Die Moral dieser Christen blieb vielfach äußerlich und wurde durch äußerliche Dressur verbreitet und befestigt; die Strafen, die die Kirche mit ihrer selbständigen Judikatur verhängen konnte, wirkten mehr als das „Wort“; am stärksten war der Einfluss der mönchischen Moral mit ihrer Askese und dem Klosterwesen. Der Mönch war das lebendige Beispiel, das im Laufe der Zeit am meisten wirkte. Die Byzantiner brachten mit dem Evangelium der Liebe nicht zu viel Menschlichkeit mit sich; es sind byzantinische Sitten, die sich in den neu eingeführten Strafen geltend machten – das Blenden, Handabhauen u. dgl. Grausamkeiten mehr, die dann später durch die tatarischen Sitten vermehrt und verstärkt wurden. (S. 35f)
Die byzantinische Kirche war erstarrt, trotzdem gerade die Griechen die Lehre und die Moral ausgebildet hatten; die Byzantiner begnügten sich mit der fast mechanische Tradition, die Religion war vornehmlich Übung des Kultes. Die Russen haben die Lehre, den Kult, die Moral und Kirchenorganisation von Byzanz fertig übernommen, an der Ausbildung des kirchlich-religiösen Lebens nicht weitergearbeitet, die Erstarrung war womöglich noch intensiver.
Das Gesagte gilt vom Klerus, das Volk begnügte sucg mit der passiven Rezeption der Kirchenzucht und mit dem blinden Wunderglauben, wie derselbe die niedere Stufe der mythischen Weltbetrachtung bedingt.
Die Byzantiner waren scholastisch gebildet, die philosophische Tradition der Griechen erhielt sich in einer Art theosophischer Gnosis; die Russen bemühten such, ihren lehren auch da nachzukommen, aber es gelang ihnen besser, im Kultus ihre religiöse Befriedigung zu finden. Die Mystik war in Moskau weniger theosophisches Schauen, als vielmehr praktische Mystagogie. (S. 38)
Die Geschichte so vieler russischer Sekten zeigt und diesen Tiefstand des religiösen Empfindens und zugleich die Mängel der offiziellen Kirche. Die Europäer haben die moskovitischen Russen sehr oft nicht als Christen, sondern als Polytheisten hingenommen, die Russen selbst aber feierten ihr Land als das „heilige Russland“. (S. 39)
Die Kirche hat die mönchische Moral mit ihrer Askese zur Geltung gebracht; die unschuldigsten Freuden, sogar das Lachen wurde von den Eiferern verpönt, die untheologische Dirchung verfolgt. Das Wesen sieser Moral kann man an den Anschauungen bemessen, die über das Weib und die Familie herrschend werden. Man vergleiche die Lehren des „Domostroj“ (Haushalt Sylvesters, der 1560 ins Kloster verbannt wurde) oder des Stoglav (das hundert Kapital enthaltende Kirchengesetz vom Jahre 1551) mit der „Belehrung Monomachs“, um sich zu überzeugen, wie Moskau unter der strammen Kirchenzucht widernatürlich geworden ist. Die Frau wird nach tatarischer Weise in den Harem (Terem, das tatarische Wort für den Palast und speziell für das Frauengelass) verwiesen, die Familie wird dem Vater – „Patriarchen“ – so untergeordnet wie die Bauern dem Herrn, die Herren dem Zaren. Die soziale und politische Sklaverei erhält in der moralischen Sklaverei der Familie ihren stärksten Rückhalt.
Das Kloster beherrschte geistig Russland. Die Hierarchie wird der Klostergeistlichkeit entnommen, die weltliche (weiße) Geistlichkeit wird der klösterlichen (schwarzen) ganz untertan; darum siegt auch die Moral der mönchischen Zölibatäre über die Moral der verheirateten Weltpriester.
Das Kloster mit seiner Weltflucht, aber Menschenbeherrschung wurde trotz oder gerade wegen der Askese reich und übte mit seinem Reichtum an Land seine große soziopolitische Macht aus; die Mönche selbst gaben nicht selten das wirksamste Beispiel eines nichts weniger als asketischen Lebenswandels.
Die Menschen, die derart die Welt und das Leben betrachteten, haben Gott und das Göttliche ganz anthropomorphistisch und soziomorphistisch aufgefasst; die Macht des Zaren, der über die Feinde der Kirche gesiegt und die inneren Gegner seiner Autokratie unterworfen hat, musste dem ungebildeten Volke und den ungebildeten Priestern die Macht Gottes garstellen.
Josif, der rauhe und harte Erneuerer des Mönchideales im XV. Jahrhundert, hat diese allgemeine Anschauung von der theokratischen Stellung des Zaren dahin formuliert, der Zar sei von Natur aus zwar allen Menschen ähnlich, aber an Macht sei er dem Gotte ähnlich. (…)
Dem Großfürsten und Zaren wird als wichtigste Pflicht auferlegt, die Kirche zu schützen und die Kirchenlehre rein zu halten; dieser Schutz ist nicht bloß gegen die andersgläubigen Feinde von auswärts, sondern auch gegen die Heräsien und Sekten im Inneren auszuüben. In der Beziehung hat der nicht weniger harte Novgoroder Erzbischof Gennadij (1485-1504) gegen die rationalistische Sekte der Judaisierenden, die als Protest gegen die Mönchherrschaft aufgefasst werden aknn, das Beispiel des spanischen Königs befürwortet und eine radikale Reinigung des orthodoxen Russlands verlangt. Ivan der Schreckliche hat seinem Gegner Kurbskij die Lehre gegeben, die wichtigste Aufgabe des Zaren sei, die Untertanen religiös und erziehen, auf dass die Menschen den einzigen, wahren, dreieinigen Gott und den ihnen von Gott gegebenen Zaren erkennen. Im Stoglav, dem Protokoll des altrussischen Konzils von 1551, auf dem die Anhänger Josifs die Majorität behaupteten, ist die theokratische Stellung des Zaren und die theologische Grundlage der russischen Theokratie überhaupt endgültig kodifiziert worden; in der Bestellung des Patriarchen Filaret zum Mitkaiser neben seinem Sohne Michail, dem ersten Romanov, hat die Theokratie auch äußerlich ihr wahres Wesen dokumentiert. (S. 39f)
Moskau wehrte nach Kräften und mit aller Strenge die katholosierenden Tendenzen der Kiever Scholasten (…) ab, aber nicht mit durchschlagendem Erfolge; in der Abwendung vom Katholizismus verfiel Moskau um so mehr dem – Protestantismus.
Gleich die tschechische Reformation, der Husitismus und noch mehr die Brüderunität, fand Anhänger in Polen und Litauen, die deutsche Reformation verbreitete sich ca. 1583 in Litauen; von Litauen und Polen aus gelangte der Protestantismus mit den Deutschen in das Herz Russlands selbst. Noch stärker und stetiger wurde der Einfluss des Protestantismus von Schweden und Ostseeprovinzen ausgeübt. (…)
Der Einfluss dieser Fremden, vorwiegend Protestanten, was sehr bedeutend; wohl in erster Reihe kulturell und gesellschaftlich, aber dadurch regte protestantisches Wesen, protestantische Frömmigkeit auch weitere Kreise zum Vergleichen und Nachdenken an. Sehr bald machte such dieser protestantische Einfluss auch kirchlich und religiös merkbar, die russischen Theologen gingen zur protestantischen Theologie in die Lehre. Dieser Einfluss, der sich bald auch literarisch und sogar künstlerisch gelten machte (…), war positiv und umso stärker, als doe Protestanten füer weniger gefährlich angesehen wurden als die Katholiken; als 1631 aus Europa Lehrer für die zu reorganisierende Armee verschrieben wurden, hat der Zar ausdrücklich den Befehl gegeben, keine Franzosen und überhaupt keine Katholiken zu engagieren, aber es wurden Schweden, Holländer, Engländer, Dänen u.a. angeworben. (S. 41f)
… in Europa waren nicht nur Hegel und Proudhon, sondern auch de Maistre und Stahl; die Russen konnten an Europa fortschrittlich und reaktionär, revolutionär und konservativ werden; nach der Revolution gab es eben auch in Europa eine sehr starke Reaktion, auch Europa war und ist entzweit, in das fortschrittliche, demokratische und in das konservative, aristokratische Europa. Man muss darum sowohl Slawophilen als auch die Westler auf diesen Hauptunterschied hin sowohl als Richtung als auch einzelne Vertreter der Richtungen beurteilen – und die einzelnen Lehren ihrer Systeme scheiden. (S. 294)
Es ist beachtenswert, dass die Anfänge der Westler und Slawophilen in persönlichem Verkehr sich bildeten und dass erst später die Ansichten schriftlich formuliert wurden; Männer, wie Čaadajev, Stankevič und Granovskij haben keiner viel geschrieben; – es handelte sich eben nicht nur um Ideen und Ansichten, sondern um neue Lebensideale und Lebensrichtungen. An diese Lebensideale wird auf beiden Seiten geglaubt, mit Begeisterung geglaubt; – die Westler glauben an die europäischen Ideale, die Slawophilen glauben an Russland.
Zwischen dem Inhalte dieses Glaubens ist allerdings zwischen den Westlern und Slawophilen der große Unterschied , dass die Westler die kirchliche Orthodoxie ablehnen, während die Slawophilen, wenngleich in idealisierter Form, dieselbe annehmen.
Philosophisch wird der Unterschied der Westler und Slawophilen zum Unterschied von Hegel und Schelling: Mit Hegel haben die Westler dem von den Slawophilen verpönten Rationalismus gehuldigt, auch wird Schellings Glaube an das Absolute durch Hegels Relativismus ersetzt. Wenn die europäischen Restauratoins- und Reaktionsphilosophie mit de Bonald den Verstand selbst al teuflisch erklärt, so gehören die Westler zu denjenigen, die an dem Verstande nicht irre werden, wenn sie auch manchmal das Einseitige des Rationalismus zugeben.
Die Differenzierung: Hegel – Schelling setzte sich auch erst mit der Zeit durch, die ersten Westler waren, wie die Slawophilen, Schellingianer.
Die religiöse und metaphysische Frage wird jedorch auch innerhalb des Westtums der Grund für die Trennung in das rechte und linke Lager. Und zwar geschah diese Trennung ganz so wie im deutschen Hegelianismus. (S. 295f)
Die Hegelsche Linke in Russland stellte sich in radikale Opposition gegen den Absolutismus, ganz so wie es die deutsche Hegelsche Linke machte; der positivistische Materialismus Herzens und seiner radikalen Gesinnungsgenossen hatte seinen grimmigsten Gegner in Nikolaus‘ und Uvarovs theokratischen Programme, in der offiziellen Orthodoxie. Weil in Russland (übrigens auch in Europa) der Staat mit der Kirche so innig verquickt ist, wurde die metaphysische Gegnerschaft gegen die Kirche und ihre Lehre zugleich zur politischen Gegnerschaft gegen den Staat. Diese Gegnerschaft entwickelt sich mit der Zeit und weist überhaupt verschiedene Grade der Intensität auf. War schon der ältere Liberalismus wegen seiner politischen Forderung der Konstitution zur Emigration gezwungen worden (N. Turgenev), um so eher musste der Herzensche Radikalismus sein Lager in Europa aufschlagen.
Die politische Tendenz unterscheidet das Westtum scharf vom Slawophilentum; die Slawophilen sind unpolitisch, sie wünschen nur die „innere“, moralische und religiöse Reform, die Westler jedoch wollen gerade die „äußere“, die politische Reform; – das Westtum wird radikal, oppositionell und direkt revolutionär. (S. 297f)
BD.2
Zeitlich stehen wir im Dezennium der Reaktion nach dem Tode Alexanders II., in den achtsitziger Jahren. Noch vor dem verhältnisreichen 13. März 1881 hat sich das revolutionäre Lager gespalten, und unter dem Einflusse von Marx und Engels organisiert sich die marxistische Sozialdemokratie; die terroristische Richtung ist stark geschwächt, aber nicht vernichtet.
Überblicken wir die Entwicklung des „russischen Sozialismus“ (oder „Kommunismus“) seit Herzen, so drängt sich uns Erkenntnis auf, dass die russischen Sozialisten, sowie die französischen und deutschen, im Sozialismus eine neue Weltanschauung und eine neue Moral suchen – das ganze Leben soll erneut werden, die Gesellschaft soll auf ganz neuen Grundlagen umgebaut werden.
Theoretisch ist diese Grundlage der Positivismus und Materialismus, der Gegensatz und die Negation des offiziellen Theokratismus; Dostojevskij hat insofern ganz recht, wenn er den Sozialismus dem Atheismus gleichsetzt und den Atheismus als Hauptlehre des Sozialismus hinstellt.
Der positivistische Materialismus und Atheismus erstrebt ethisch den neuen Menschen, politisch den sozialen Umsturz: die sozialistische Praxis wird ethisch fundiert – das Ideal ist eine Umänderung von Grund aus, eine soziale Revolution, die alle Ungerechtigkeit und Ungleichheit auf immer und auf einmal verbannen würde.
In praxi führt dieses Ideal bei einem Teile der revolutionären Sozialisten zum Terrorismus; der offene Massenaufstand der Dekabristen hat die Unmöglichkeit der Massenrevolution ad oculos demonstriert.
Die sozialistische und philosophische Revolution führt der Intellektuelle, die Intelligenz, und zwar soll diese Revolution den Mužik – das war damals Russland – befreien, das Narodničestvo, die Mužikophilie, charakterisiert den russischen Sozialismus; der Arbeiter, die Stadt wird erst in späterer Zeit für den Sozialismus wichtig, aber der Stadtarbeiter der wachsenden Industrie ist schließlich wiederum der russische Dorfmužik. An den Arbeiter wendet sich der Marxismus. (S. 279)
Die Bolševiki haben sich in ihrem radikalen linken Flügel zu Anarchosozialisten ausgebildet; diese Elemente akzeptieren im Namen des orthodoxen Marxismus die Expropriationen, der Konstitution und dem Parlament gegenüber treten sie unter dem Namen der Otzovisten (Abberufer, nämlich ihrer Dumamitglieder) und Ultimatisten auf (Ultimatismus ist die Methode, ihren Dumaabgeordneten und allen Organisationen überhaupt das Ultimatum zu stellen, nämlich die Unbotmäßigen mit dem Boykott seitens der Parteileitung zu terrorisieren).
Auch die Menševiki haben in derselben Zeit ihre politische Krankheit durchgemacht; sie verpönten in ihrem Streben, eine reine Proletarierpartei zu sein, die Intelligenz und stellten auf ihrem radikalsten Flügel sogar die Forderung auf, die Partei gänzlich in der Masse aufgehen zu lassen, die Parteileitung – dieselbe ist natürlich auch illegal – zu liquidieren („Liquaditorentum“).
Die Antipathie gegen die Liberalen gab sich gleichzeitig in einer mehr theoretischen als praktischen Richtung anarchistischen Richtung in der 1904 unter dem Namen Machajevtum (nach dem Begründer der Richtung) auftretenden Polemik gegen die Intelligenz kund.
Auch die Sozialrevolutionäre verfielen innerlich. Es bildete sich ebenfalls ein rechter und linker Flügel, die Minimalisten und Maximalisten; wie dieselben auch in den Fraktionen der Sozialdemokratie analog zur Geltung kommen. (S. 287)
Die Rückkehr zur Religion, die die Revisionisten vollzogen haben, geschah zum Teile durch das Beispiel der deutschen Revisionisten; in der Hauptsache folgen aber die russischen Revisionisten der Strömung, die durch Solovjev und Dostojevskij repräsentiert wird. Heute, wie gesagt, kann man von Struve, Bulgakov und den anderen nicht mehr als Revisionisten sprechen; dagegen gibt es religionsfeindliche Marxisten, von denen Lunačarskij der baknnteste ist, wenn man Gorkij nicht nennen will, der das Wort: Gottesbildner (nicht Sucher!) geprägt hat, das von den Gegnern zur Bezeichnung der Richtung verwendet wird. (S. 334) → schildert auf folgenden Seiten den Streit zw Plechanov und Lunacarskij wg. Religion und Sozialismus
Das Groß der russischen Liberalen richtet ihr Verhalten zur Religion so ein wie ihre europäischen Vorbilder. Sie halten sich im Grunde an den alten Tatišcěv, der seinem Sohne die Lehre mitgegeben hat, niemals öffentlich vom Glauben abzufallen und den Glauben nicht zu ändern. Oder wie diese Regel Descartes‘ der Philosoph und Pädagoge Pirogov in seinem Tagebuch ausgedrückt hat: Wenn ich den Schoß der Staatskirche nicht zu verlassen strebe, wenn ich nicht gegen sie auftrete, wenn ich ihr alle Ehren erweise, mit einem Worte, wenn ich an die National- und Staatsreligion, zu der ich mich nebst der Familie bekenne, nicht rühre, wes geht die Leute mein individueller Glaube an, über den ich hier nicht Rechenschaft ablegen werde?
Auch der russische Liberalismus ist religiös zu einem System des Indifferentismus geworden, und in diesem Indifferentismus ist alle seine Schwäche beschlossen. Der Liberalismus ist nicht bloß skeptisch, er ist indifferent, und der Indifferentismus ist der eigentliche Unglaube, nicht die Skepsis. Und dieser liberale Unglaube klammer sich an die Kirche, an die er nicht mehr glaubt, ganz so, wie sich derr Zar an sie klammert… (S. 408)
Das russische Denken, die russische Philosophie, tritt nicht bloß als Geschichtsphilosophie auf, sondern sie beschäftigt sich auch zugleich ganz besonders intensiv mit dem religiösen Probleme. Darin unterscheidet sie sich nicht von der Philosophie in Europa: es ist der Gegensatz gegen die kirchliche Theologie, der die neue Philosophie zur Religionsphilosophie macht (…). (S. 427)
Die Russen haben Kant deshalb nicht angenommen, weil sie noch mythischer waren und sind als die Europäer: die Russen vermochten, durch Europa angeregt, den Mythus – die Theologie – zu negieren, aber nicht zu kritisieren: das russische Denken ist negativ, aber nicht kritisch, die russische Philosophie ist Negation ohne Kritizismus.
Das ist der Grund für die Tatsache, dass diese russische Negation gläubig bleibt. Der gebildete Russe gibt seinen Kinderglauben auf, aber er akzeptiert sogleich einen anderen Glauben – er glaubt an Feuerbach, an Vogt, an Darwin, an den Materialismus und Atheismus. Wir haben gesehen, wie Bĕlinskij, wie Herzen und ihre Nachfolger gegen die Skepsis nach Glauben ringen. Ich habe an allen den Mangel an Kritik nachgewiesen und betont. Wie z.B. Lavrov von Kant auf Bruno Bauer herabgreift.
Ganz charakteristisch ist das unvermittelte Aufgeben des alten und die Annahme des alten Glaubens: Bĕlinskij liefert dafür in seiner Entwicklung geradezu klassische Belege. An ihm erssieht man, was Negation ohne Kritik – erkenntnistheoretische Kritik – ist.
Diese Glaubenssucht gegenüber der Skepsis ist nicht bloß Sucht nach religiösem Glauben – der Russe will an etwas immer glauben, an die Eisenbahn (Bĕlinskij), an den Frosch (der Nihilist Bazarov), an den Byzantinismus (Leontjev) usw. Leontjev hilft gegen die Skepsis sogar mit Gewalt nach: er zwingt sich selbst, er überredet such zum Glauben.
Das russische Denken erweist sich auch darin als mythisch, dass bis heute die Dichter, vielmehr als in Europa, die eigentlichen Volksbildner sind. Puškin, Gogol, Turgenev, Dostojevskij, Tolstoj, Čechov, Gorkij sind die russischen Denker. Die Dichterdenker, nicht die philosophischen und wissenschaftlichen Denker werden in Russland gehört. Der Dichter steht dem Mythus näher als der Philosoph.
Darum hat Russland seine vielen literarischen Kritiker, aber es hat so wenig erkenntnistheoretische Kritik; wird aber das Problem der Kritik philosophisch behandelt, so wird dasselbe charakteristischerweise auf das ethische Problem reduziert.
Und wir begreifen jetzt auch, warum Schelling und Hegel den Russen lieber waren als Kant oder Hume. Mit Schelling ist gegen Kant die Mythologie in die Philosophie eingezogen, und Hegel hat mit seiner das Prinzip des Widerspruches aufhebenden Dialektik, trotz seiner Opposition gegen die Theologie, die Theologie und Mythologie auch gefördert. (S. 430ff)
Das vorpetrinsische Russland war ohne weltliche und eigentlich auch ohne geistliche Bildung; darum tritt die europäische Bildung sogleich als Gegensatz zur russischen Bildung auf. Zwar ist die Europäisierung, wie gezeigt wurde, nicht ganz plötzlich und auf einmal durchgeführt worden, aber sie kam doch innerlich unvermittelt, denn die russische Kirche, die die geistige Führung des Volkes hatte, hatte nicht nur keine Philosophie (Scholastik), sondern nicht einmal eine Theologie. In Konstantinopel, in Rom und gar in Deutschland und England gab es eine Philosophie und Theologie, die Scholastik bereitete die Menschen Jahrhunderte für das wissenschaftliche und kritische Denken vor. Es gab die große geistige Bewegung der Renaissance und des Humanismus; die neue Philosophie und Wissenschaft wurde überdies durch die Reformation und stufenweise Entwicklung innerhalb des Protestantismus vorbereitet. In Europa war Voltaire, Hume, Kant, Comte, Fichte. Hegel, Feuerbach ein organischen Glied der Entwicklung, in Russland bedeuteten sie eine radikale Revolution.
Das geistesstille orthodoxe Russland überflutete vorerst der französische antiklierikale und antireligiöse Rationalismus; Voltaire, Diderot, Rousseau, Montesquieu usf. werden in Russland (d.h bei Hofe und in der „Gesellschaft“) heimisch (Voltaire wird in einer russischen Dorfdruckerei herausgegeben!). Zu dem französischen kommt der deutsche Einfluss, besonders Hegel und die radikale Hegelsche Linke, Feuerbach, Strauß; mit Feuerbach kam der Materialismus (Vogt usw.) und der Positivismus Comtes und Mills und der naturalistische Evolutionismus Darwins und Spencers. Ihre politische Bildung suchten die zu Hause geknechteten Russen bei den liberalen und sozialistischen Führern und Schriftstellern Europas; Constant, St. Simon, Fourier, Proudhon, Owen, dann Lassalle und Marx lieferten die sozialen und politischen Ideale – Hegel und Feuerbach lösen die byzantinische Orthodoxie ab. Man stelle sich die Situation nur recht deutlich vor: Marx‘ staatsloser Kommunismus soll die mittelalterliche agrarische Naturalwirtschaft des theokratischen Russlands abschaffen und ersetzen! (S. 442)
In Europa konnte man schon im XIII. Jahrhundert dem Kaiser den Ausspruch De tribus impostoribus zuschreiben, und wir haben Beispiele ungläubige Päpste – wie muss aber ein solches Wort in Russland wirken, in einem Lande, wo bisher die Kirche und ihre Klöster die höchste und allgemein anerkannte geistige Autorität waren und wo der Staat der rechte und der linke Arm dieser Autorität ist! In England werden Mill und Darwin in der Westminsterabtei begraben, in Russland wandern die Anhänger von Mill (Černyševskij!) und Darwin in das Zuchthaus nach Sibirien! (…)
So wird in Russland die Philosophie und Wissenschaft, Kunst und Technik zur revolutionären Waffe; die Literatur wird zum sozialen und politischen Führer, allerdings auch zu einem „Register von Sträflingen“ (Herzen), Verbannten und Emigranten.
Die Folge der plötzlichen Erleuchtung ist die Revolution – die geistige und politische Revolution gegen die herrschende Theokratie. Die Negation, der Pessimismus, der Nihilismus sind die natürliche Folge des unvermittelten Übergangs von der Orthodoxie zum Atheismus, Materialismus und Positivismus. (S. 443)
Tatsächlich charakterisiert die russische Religion und Religiosität der Glaube an die andere Welt – die Transzendent ist für den gläubigen Russen kein bloßes philosophisches Prinzip, sondern reale Wirklichkeit; der Gottes- und Götterglaube und der Glaube an das andere, ewige Leben – die Unsterblichkeit – ist ganz lebendig. Darum das Bestreben, schon in diesem Leben des ewigen Lebens teilhaftig zu werden: Kontemplation, Mystik. Der russische Glaube ist Wunderglaube, Zauberglaube – Jesus als der heilende, die Toten erweckende Gott in Menschengestalt steht dem Russen nahe, der Gottmensch. Die Transzendenz wird nicht geistig und ethisch, sondern materiell gefasst – auch die Seele erscheint nur als feinere Materie, der Unterblichkeitsglaube ist wesentlich noch Animismus, Geisterglaube. Darum eben die anthropomorphische Betonung des Gottmenschen (…), die Freude an materiellen Kultushandlungen und an der materialistischen Symbolik. Charakteristisch sind die rein formalistischen und materialistischen Lehren und Gebräuche, die sich im Raskol geäußert haben, und die Tatsache, dass die Staatskirche, wenn auch nach einigem Zögern und Schwanken, den Raskol nicht eigentlich ab- und ausgestossen hat. Auch die Mystik ist materialistisch.
Der lebendige Glaube an die Transzendenz führt praktisch zur Askese; der russische Mönch ist nur Asket, Einsiedler, Welt- und Lebensverächter, während der römische auch Krankenpfleger, Arzt, Lehrer usw. geworden ist. Wenn Herzen im Christentum die Religion des Todes erblickt, so denkt er vornehmlich an die russische Religiosität. Trotzdem gilt auch vom russischen Mönche: contemptor suaemet ipsus vitae, dominus alienae.
Folgerichtig ost das religiöse Verhalten der Russen passivistisch – blinde Annahme der Offenbarung und der Kirchenpraxis, die vom dem Gottmenschen eingesetzt ist; darum gibt es und kann es keinen Fortschritt, keine Entwicklung geben – Gott hat im Gottmenschen die höchsten und für den Menschen wichtigsten Wahrheiten geoffenbart; diesen Wahrheiten kann der Mensch nichts hinzusetzen, nichts hinzufügen, er hat sich an ihnen zu erbauen und hat sie einfach zu befolgen. Selbst für Augustinus hört mit Jesus die Geschichte eigentlich auf – Solovjev hat darum nach Gründen gesucht, die geschichtliche Entwicklung nach Christus zu rechtfertigen.
Die russische Kirche und Religion ist prinzipiell unfortschrittlich – so, wie sie schon im III. Jahrhundert von den großen griechischen (alexandrinischen) Dogmatikern festgelegt wurde, so will sie in Lehre und Praxis verbleiben. (S. 445ff)
Die Russen haben die byzantinische Theologie, aber keinen Hellenismus erhalten, höchstens soviel, als etwa in der Theologie enthalten war; mit dem Westen verglichen gab es keine Rezeption des Aristoteles und des Corpus juris, das Griechische hat in Russland nicht die Rolle gespielt wie das Latein im Westen, es gab auch keinen Humanismus, keine Renaissance, keine selbständige Entwicklung der Wissenschaften und der neuen Philosophie und vor allem keine Reformation (und Anti-Reformation). Dagegen war der religiöse Einfluss Asiens auf Russland von Anfang ziemlich stark – Leontjevs Vorliebe für das Stationäre des Asiatismus ist nicht so ganz unrussisch.
Die Slawophilen loben Russland, dass es keine Scholastik hervorgebracht hat. Russland hatte eben die Kirchenlehre nicht gegen die klassischen Heiden zu verteidigen, und man hatte nicht das Bedürfnis, diese Lehre gegen das eigene Denken zu sichern – die Slawophilen sprechen darum ganz aus dem Geiste der russischen Kirche, wenn sie gegen die Logik und gegen Aristoteles auftreten und sich an Plato und seine Kontemplation der ewigen Ideen und Wahrheiten halten. Sie haben ganz russisch gedacht, wenn sie die Scholastik die Mutter des Protestantismus und Rationalismus überhaupt nennen und den Rationalismus absolut verurteilen. (…)
Es wurde hervorgehoben, dass die russischen Religionsphilosophen die Kirche so stark betonen. Aber die Kirche ist für den Russen doch etwas anderes als für den Katholiken oder Protestanten. Der Russe – der Orthodoxe überhaupt – sieht in dem Priester vor allem den Wundertäter, den Zauberer, nicht den Religionslehrer und -führer; der Priester ist dem Russen ein lebendiger guter Leiter der göttlichen Gnade, ein passiver Vermittler. Der Russe ist konsequenter Passivist: ohne persönliches Zutun wird dem Menschen das Heil zuteil, auch der Priester ist persönlich dabei unbeteiligt. Darum wird in Russland (und im Osten) der Mönch viel höher gewertet als der gewöhnliche Priester; der Priester ist verheiratet und steht darum dem Laien nahe, nur zur zeit seiner priesterlichen Funktionen wird er der eigenartige, passive Vermittler der höheren Kräfte. (…)
Der Staat in Byzanz war auch infolge der asiatischen und europäischen Feinde und ihrer Bestürmung des Reiches eine nationale Notwendigkeit, und die Kirche konnte sich bei der staatlichen und nationalen Isolierung nicht so international entwickeln, wie der westliche Papismus. Im Westen fiel das römische Kaisertum tausend Jahre früher als im Osten, erst nach einigen Jahrhunderten wurde dasselbe nach dem östlichen Muster und zwar von dem schon erstarkten und als eigener Staat organisierten Papsttum begründet.
Auch in Russland hat sich die Kirche mit dem Staat im Sinne des Cäsaropapismus verbunden; zudem ist die Kirche besonders im Kampfe gegen die Mohammedaner, den katholischen und später gegen den protestantischen Westen nationaler geworden als die internationale Kirche des Westens. (S. 448f)
Die ganze Methode Bakunins, das Sprunghafte, Zerfahrene, Abenteuerliche zeigt uns den gewohnheitsmäßigen Indeterministen, der das Wunder erwartet; hat Fourier täglich den Millionär erwartet, der ihm zur Verwirklichung der Pläne das Geld bringen würde, so hat Bakunin täglich das Wunder der Revolution erwartet. Bakunin ist der Fatalist, der auf das Vielleicht setzt (Herzen sagte ihm das ganz richtig), trotz Hegel, Comte, Feuerbach und Vogt bleibt er der an Wunder glaubende und hoffende mystische Indeterminist, der sich in die von der Wissenschaft erkannte Gesetzmäßigkeit der Natur und Geschichte noch lange nicht eingelebt hat, trotzdem er eine positivistische Geschichtsphilosophie fordert. Bakunin handelt auch als Aristokrat, der noch nicht arbeiten gelernt hat; denn Arbeiten ist stetige Kleinarbeit, aber für diese hat der russische Großgrundbesitzer noch keinen rechten Sinn. Arbeiten und gar arbeitsam sein kann nur derjenige, der die deterministische Stetigkeit der berechnenden Voraussicht und Vorsicht sich angeeignet hat, der die Wichtigkeit der durchdachten Wirtschaft erkannt hat. Als Großgrundbesitzer ist Bakunin nicht in einer industriereichen Stadt aufgewachsen, in Europa hat er aber die Wirkung der Maschine und des modernen Handelns und Verkehrs für die Erziehung und Charakterbildung gar nicht beachtet. Bakunin ist politischer Okkultist, der Geheimbund, er an seiner Spitze, ist die Übersetzung des russischen Popen, wie er hinter dem Altarbild der Gemeinde entrückt ist, ins Politische.
Bakunin hat die deutsche Philosophie studiert, aber die französische Politik mitgemacht, ohne zu ahnen, dass beides sich nicht gut vereinen lässt. Darum seine Vorliebe für Proudhon und französische Sozialisten und seine Abneigung gegen Marx. Bakunin ist nicht Marx, sondern Blanqui kongenial. Es ist die katholische Erziehung, die da und dort die Menschen positiv und negativ ähnlicher formt. Von den Deutschen werden die Ideen angenommen, aber die Franzosen sind die Muster der Praxis. Der Anarchismus Bakunins ist russisch, aber es ist orthodoxer Anarchismus und nur als Revolution gegen die russische Orthodoxie begreiflich. Mit dem französischen Sozialismus jener Zeit hat dieser russische Anarchismus viel Verwandtes; auch der französische Sozialismus war stark anarchisch, überhaupt war und ist der Anarchismus bis jetzt bei den katholischen Völkern zu finden. Dagegen hat sich der deutsche, zumal marxistische Sozialismus bei protestantischen Völkern ausgebildet; bei ihnen ist der Anarchismus als philosophisches System, als Gesamtstimmung nicht in dem Maße zu finden, wie bei den katholischen Romanen, Deutschen (in Österreich und Süddeutschland) und Slawen. Darum kann man den Anarchismus nicht schlechtweg als nationalrussisch hinstellen, und man muss auch zwischen Anarchismus und Revolutionismus den richtigen Unterschied machen. Der geistige Stillstand der russischen Theokratie, die Abwesenheit geistigen Lebens und Regens, die Unarbeitsamkeit des Absolutismus hat die gebildete Aristokratie zum Anarchismus getrieben: der Bakuninsche Anarchismus ist der Zorn und die Aufregung des zur Untätigkeit verurteilten und erzogenen Aristokraten. Wenn Bakunin am Ende seines Lebens mit großer Vorliebe Schopenhauer, den Philosophen der Galle, gelesen hat, so ist damit diese Seite seinen Anarchismus psychologisch ganz organisch charakterisiert. (S. 498f)