Aus: Simone Weil, “Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber”, 2011 Zürich

(Ich hab’s endlich hingekriegt, was ich seit Jahren vorhatte und mich nicht so richtig rangetraut habe: über Simone Weil geschrieben. Es hat sich da so einiges in den Notizen angesammelt, vieles davon habe ich schließlich nicht verwendet. Es ist auch nicht einfach, Weil zu lesen, deswegen haue ich das ganze Geroll raus – vielleicht stolpert jemand darüber und lässt sich doch noch zur Lektüre inspirieren oder hat nach dem Zitat gesucht und weiß nicht mehr, wo es war. Hier, übrigens, waren die Exerpte aus ihrem Fabriktagebuch. Wie auch immer, enjoy! – liberadio)

„Die Pflicht besteht nur zwischen einzelnen Menschen“. (S.8.)

„Diese Pflicht beruht auf keiner Übereinkunft. Denn all Übereinkünfte können nach dem Willen der Vertragspartner geändert werden, während an dieser Pflicht keinerlei Änderung eines menschen Willens auch nur irgendwas ändern könnte. Diese Pflicht ist ewig. Sie entspricht dem ewigen Geschick des Menschen. Nur der Mensch hat ein ewiges Geschick. Die Gemeinwesen haben es nicht. Auch bestehen ihnen gegenüber keine direkten Verpflichtungen, die ewig wären. Einzig und allein ewig ist die Pflicht dem Menschen als solchen gegenüber. Diese Pflicht ist nicht an Bedingungen geknüpft. Wenn sie auf etwas gegründet ist, gehört dieses Etwas nicht unserer Welt an. In unserer Welt ist sie auf nichts gegründet. Dies ist die einzige Pflicht, die sich auf die menschlichen Dinge bezieht, aber keiner Bedingung unterworfen ist“. (S. 9)

„Die französische Arbeiterbewegung, die aus der Revolution hervorging, war im Wesentlichen ein Schrei, nicht der Revolte, sondern des Protests gegen die erbarmungslose Härte des Schicksals aller Unterdrückten. (…) Sie endete 1914; seitdem ist nur noch ein Nachhall geblieben (…) Das konkrete Verzeichnis der Schmerzen der Arbeiter liefert die Liste der Dinge, die geändert werden müssen“. (S. 53) „Nur die JOC (Jeunesse Ouvrière Chrétienne) hat sich mit dem Leid der jungen Arbeiter befasst; dass es diese Organisation gibt, ist vielleicht das einzige sichere Zeichen dafür, dass das Christentum bei uns noch nicht ganz gestorben ist“. (S. 62)

„Auf jeden Fall wäre eine solche soziale Lebensweise weder kapitalistisch noch sozialistisch. Der Proletarierstand würde abgeschafft, anstatt auf alle Menschen ausgedehnt zu werden, wozu der sogenannte Sozialismus tendiert“. (S. 74)

„Er wird keine gesunde Arbeiterbewegung geben, wenn sie nicht über eine Lehre verfügt, die dem Begriff des Vaterlands einen bestimmten Platz zuweist, das heißt einen beschränkten Platz“. (S. 97)

„In einer christlichen Seele wirkt das Vorhandensein der heidnischen Tugend des Patriotismus zersetzend. Sie ist von Rom in unsere Hände gekommen, ohne getauft worden zu sein. Merkwürdigerweise ließen sich die Barbaren oder die, die man so nannte, zur Zeit der Invasionen fast ohne Schwierigkeiten taufen; das Erbe des alten Roms aber hat nie die Taufe empfangen, wahrscheinlich weil es nicht getauft werden konnte, und das, obwohl das römische Kaiserreich das Christentum zur Staatsreligion erhob“. (S. 133)

„Da der Gehorsam des Volkes den öffentlichen Gewalten gegenüber ein Bedürfnis des Vaterlandes ist, wird er zu einer heiligen Pflicht, die den öffentlichen Gewalten, weil sie deren Gegenstand sind, denselben Charakter des Heiligen verlieht. Es handelt sich aber keineswegs um die Vergötzung des Staates, die mit dem Patriotismus im römischen Sinn zusammenhängt. Sondern um das Gegenteil. Der Staat ist heilig, aber nicht wie ein Götzenbild, sondern wie die Kultgegenstände oder die Steine des Altars, das Taufwasser oder andere ähnliche Dinge. Jedermann weiß, dass es sich nur um stoffliche Dinge handelt. Aber diese stofflichen Stücke werden als heilig betrachtet, weil sie einem heiligen Gegenstand dienen. Und diese Art von Majestät steht dem Staate zu“. (S. 169)

„Da Faschismus, Kommunismus und Chaos nur leicht unterschiedene, fast gleichwertige Ausdrücke für ein einziges Übel sind…“ (S. 170)

„So ist das Christentum, von einigen Lichtblicken abgesehen, in Wirklichkeit eine äußere Form für die Interessen derer, die das Volk ausbeuten“. (S. 229)

„Die Sozialwissenschaft ist die Untersuchung des Großen Tiers und sie muss seine Anatomie, Physiologie, seine natürlichen und konditionierten Reflexe, die Möglichkeiten seiner Dressur beschreiben“. (S. 272)

„Jasagen zur körperlichen Arbeit ist nach dem Jasagen zum Tod die vollkommenste Form der Tugend des Gehorsams“. (S. 273)

„Das ist von strahlender Evidenz, wenn man wie das Altertum die Passivität der trägen Materie als die Vollkommenheit des Gehorsams und die Schönheit der Welt als Glanz des vollkommenen Gehorsams betrachtet“. (S. 277)

„Die körperliche Arbeit ist ein täglicher Tod. Arbeiten heißt, sein eigenes Sein, leib und Seele, in den Kreislauf der trägen Materie einzubringen, es zu einem Vermittler zwischen einem Zustand und einem anderen Zustand eines Fragmentes der Materie zu machen, zu einem Werkzeug zu machen. Der Arbeiter macht aus seinem Körper und seiner Seele eine Verlängerung des Werkzeugs, das er handhabt. Die Bewegungen des Körpers und die Aufmerksamkeit des Geistes funktionieren, wie es das Werkzeug verlangt, das seinerseits der Materie der Arbeit angepasst ist“. (S. 278)

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