Einige Anmerkungen zu „Postmoderne-Veganismus-Anarchismus“ von Bernd-Udo Rinas. In der April-Ausgabe der GaiDao erschienen.
Nordsächsischer Bund der Satano-Kommunist*innen / Leipzig
Dieser Beitrag ist keine direkte Antwort auf die Vortragsankündigung von Bernd-Udo Rinas, die in der 6. Sonderausgabe der GaiDao „Zeit für Plan A“ abgedruckt wurde. Es macht nicht viel Sinn auf eine Ankündigung zu antworten. Sagen wir mal, dieser Beitrag wurde dadurch „inspiriert“. So weit wir wissen, fand der Vortrag „Postmoderne-Veganismus-Anarchismus“ und die Diskussion um seine Thesen in Witten während der Kampagne der AFRR nicht statt, dennoch ist es möglich sich mit ihnen auseinander zu setzen: so weit wir beurteilen können, lassen sich die Thesen, etwas ausführlicher dargestellt, im Buch „Anarchismus in der Postmoderne“ (2005) finden. Der Autor wünschte sich eine „anarchistische“ Auseinandersetzung mit dem Begriff Postmoderne und mit der veganen Lebensweise. Diese sollte unserer Meinung nach tatsächlich stattfinden, die hoffentlich weiter führen wird als die, die 2009 in der Graswurzelrevolution unter dem Titel „Anti-Speziezismus? Schmeckt mir nicht!“ stattfand. (1) Denn zum Einen bringt der Autor die drei oben genannten Begriffe (2) zusammen auf eine Weise, und stellt dazu Thesen auf, die uns höchst umstritten scheinen. Zum Anderen scheint es uns sehr besorgniserregend, dass solche Beiträge in der Gai Dao unkommentiert oder unwidersprochen erscheinen und sich die postmoderne Konfusion in der anarchistischen Szene breitmacht. (3)
Wir vernahmen allerdings kritische Stimmen, die mit den von Rinas aufgestellten Thesen nicht zufrieden waren. Den meisten ging es jedoch um die Verknüpfung von Anarchismus und Veganismus, die von Rinas als unabdingbar dargestellt wird: „Mensch muss Veganer_in geworden sein, um wirklich anarchistisch zu sein!“ (4) Die Behauptung scheint uns sogar berechtigt, diskutabel wäre sie auf jeden Fall. Problematischer finden wir einerseits die postmoderne (postmodernistische?) Fundierung des Veganismus und andererseits seine wiederum postmodern fundierte Verbindung mit edm Anarchismus. Doch – der Reihe nach.
Rinas stellt ein Veralten des („klassischen“) Anarchismus und ein Aufkommen einer jugendlichen Subkultur fest, die in der a priori angenommenen und nicht weiter erklärten Postmoderne eine vegane Lebensweise pflegt. So will Rinas – ein ehrenhaftes Vorhaben – den Anarchismus am Leben erhalten und plädiert dafür, diesen mit der veganen Subkultur zu vermählen. Das geht nicht ohne Weiteres, denn der „klassische“ Anarchismus ist anthropozentrisch – setzt den Menschen als Maß aller Dinge, modern und den Idealen der Aufklärung verpflichtet, was in der Postmoderne freilich eine Unverschämtheit sein soll. Demzufolge ist der Anarchismus heutzutage nicht nur unpopulär, ohne „Anschluss an die Basis“, sondern auch angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen komplett hilflos. Was den Autor zu einer durchaus richtigen Feststellung führt, dass der identitär, d.h. auch ideologisch gewordene Anarchismus tatsächlich zu einem „historischen Produkt“ geworden ist. Nun, stellt sich in der These 7 der Vortragsankündigung heraus, dass ein anderer, richtiger Anarchismus schon längst existiert: die vegane Bewegung, die viele althergebrachten Begriffe des Anarchismus wie Freiheit, Individualität, Solidarität, Herrschaft, gegenseitige Hilfe usw. in Frage stellt, anders auslegt und auslebt. Soweit die Thesen, die von Rinas zu Diskussion gestellt wurden. Doch sowohl in der Vortragsankündigung als auch im Buchbeitrag hantiert der Autor mit Begriffen und Annahmen, die nicht ohne Weiteres plausibel sind, zieht Schlüsse, die nicht einleuchtend sind. Machen wir ihm aus seiner Beschäftigung mit der postmodernen Theorien keine Rechtfertigung – denn ein Postmoderner wäre vielleicht ja auch nicht verpflichtet logisch zu argumentieren, das wäre sonst aufklärerisch und folglich repressiv – sondern wenden uns einigen seiner Thesen zu.
Welche (Post-)Moderne?
Worum es, noch mal, Rinas geht ist, „dem Anarchismus (…) eine Chance geben, als (alte) Theorie auch in der Postmoderne eine Bedeutung zu behalten“. (5) Es ist diese diffuse Postmoderne, die plötzlich da ist, mit der wir uns abfinden müssen. Es ist die mit Verweis auf Bauman diagnostizierte „Auflösung der Objektivität“, die als positiv empfundene Abwesenheit von Wahrheit und Bedeutung in der Welt. Die lineare Modernisierung, der Fortschrittsglaube der bürgerlichen Gesellschaft, die Zuversicht, dass es nur noch besser wird, ist passe. „Kurzum: die moderne Gesellschaft ist gescheitert und hat der Postmoderne Platz gemacht, die sich nun anstrengen muss, nicht mehr angestrengt hinter den Zielen der Moderne hinter her zu laufen um Ordnung und Eindeutigkeit herzustellen“. (6) Wie wenig hat Zygmunt Bauman die Kritische Theorie, die verzweifelte Verteidigung der Vernunft und der Aufklärung verstanden, auf deren begrifflichen Knochen er soziologisches Fleisch bilden wollte, (7) wenn mensch mit ihm so leichsinnig-postmodern und beiläufig nicht nur die Kapitulation der Vernunft (8) in der Welt ausruft, sondern auch die unbedingte Anpassung daran fordert. Das einzige Mittel, das Umschlagen der Aufklärung in Gräueltaten der Moderne zu begreifen, d.h. auch sie ggf. abzuwenden, sie zu beheben, ist der Verstand, ist die menschliche Vernunft, ist immer noch die Aufklärung. (9) Wie unendlich weiter als solche „Kritiker der Moderne“ war der nicht mehr als aktuell geltende Landauer, als er schrieb: „Wahrheit aber ist ein durchaus negatives Wort, die Negation an sich… Alles ist anders: das ist die Formel all unserer Wahrheit“, (10) auch wenn das tatsächlich zum wenigen Brauchbaren aus seinem Werk gehört!
Doch was ist diese Postmoderne eigentlich, wann setzt sie an? Und viel mehr: gegen welche Moderne und warum will sie sich absetzten? Außer der oben zitierten Ausführungen finden wir bei Rinas nichts. Nach Wolfgang Welsch ist der Postmodernismus „in Wahrheit weder irrational (wenn schon, wäre er als hyper-rational zu bezeichnen) noch huldigt er einem ‘anything goes’, sondern beachtet die Unterschiede des Gutgehens, Danebengehens und Zugrundegehens sehr genau. Auch ist er kein Agent von Beliebigkeit, sondern schätzt spezifische und benennt allgemeine Verbindlichkeiten, und er plädiert nicht für Orientierungslosigkeit, sondern tritt für präzise Maßgaben ein. (…) Die Postmoderne hat tiefere Wurzeln und eine längere Herkunft, und sie arbeitet an gravierenderen Problemen als denen des Tages. (…) Zudem muss man sich (…) im klaren sein, dass Postmoderne und Postmodernismus keineswegs eine Erfindung von Kunstheoretikern, Künstlern und Philosophen sind. Vielmehr ist unsere Realität und Lebenswelt ‘postmodern’ geworden. (…) Real ist eine Gesamtsituation der Simultanietät und Interpenetration differenter Konzepte und Ansprüche entstanden. Auf deren Grundforderungen und Probleme sucht der postmoderne Pluralismus zu antworten“. (11) Demgemäß ist die Postmoderne radikal pluralistisch und tritt für Mannigfaltigkeit von Wissensformen, Lebensentwürfen und Handlungsmustern ein und ist somit per se anti-totalitär und von konfliktorientierten Ethik geprägt. Wir erfahren allerdings auch, dass die Postmoderne keine „Trans- oder Anti-Moderne“ ist: „Sie ist eigentlich radikal-modern, nicht post-modern. Und auch: sie gehört – als eine Transformationsform derselben – der Moderne zu. (…) ‘Postmoderne’ bezeichnet nur die Form, wie diese Moderne gegenwärtig einzulösen ist“. (12)
So zitiert Rinas unter anderem auch den Soziologen Ulrich Beck, demnach die Postmoderne schlicht ein Gefühl bezeichnet, dass das bisher Dagewesene nicht mehr zu gelten scheint, während das Neue (noch) nicht gefasst werden kann. „Vergangenheit plus ‘post’ gleich wortreiche, aber begriffstutzige Gegenwart“. (13) Allen Bemühungen zum Trotz, sieht es leider nicht so aus, „dass die Postmoderne grundsätzlich als Hort der Kritik der bisherigen klassischen Gesellschaftsanalyse/Gesellschaftstheorie (…) zu verstehen ist“, nur dass sie eine anti-aufklärerische Infragestellung für grundlagentheoretische Begrifflichkeiten bedeutet“. Sollte die so genannte Postmoderne auch nach Welsch nur ein kurzes Zweifeln der Moderne an sich bedeuten, nur um so selbstvergessener und ohne zu hadern dieselbe kapitalistische und ökologische Katastrophe weiter zu betreiben – wenn mensch die Worte Zygmunt Baumans von der „schwindenden Universalität“, (14) also von der abwesenden Wahrheit ernst nimmt, demzufolge die Postmoderne einfach ein Arrangement mit der Unsicherheit, mit dem katastrophalen Zustand der Welt und der Verzicht auf eine kategorische Kritik daran wäre – wie kann sich eine Gesellschaftskritik, die radikal sein will, darauf positiv beziehen?
Freilich gehört zum Verstehen der „Postmodernität“ überhaupt erst irgendeine Bestimmung der Moderne, gegen die sich die Postmoderne abgrenzen will. Und zugegebenermaßen ist der Begriff auch diffus und sehr umstritten. Was ist das, wann fängt sie an? Mit der Aufklärung, mit dem Aufkommen der kartesianischen Philosophie? Mit der Herausbildung der uns geläufigen Form der Staatlichkeit, des Manufakturen- und Fabrikregimes? Mit der noch im „Manifest der kommunistischen Partei“ (1848) angedeuteten Globalisierung des Marktes? Libertärer „Marxianer“ Helmut Thielen beschreibt Moderne ganz allgemein als „ein totales System von Herrschaftsstrukturen“, zu denen er die Verfügung über das menschliche Arbeitsvermögen und Produktionsmittel (technische Mittel und Naturwissenschaften), die Machtapparate des Staates und die „Selbstbeherrschung des menschlichen Individuums“ zählt. „Zum der Tendenz nach totalitären System werden diese vier Strukturen der Herrschaft durch drei Eigenschaften: formelle Rationalität, strukturelle Ähnlichkeit und funktionelle Verflechtung“. (15) Da die Soziologen ja auch zugeben, dass es aus der Sicht der technologisch-produktiven Effizienz keinen Bruch zwischen der Moderne und der Postmoderne gibt, (16) könnten wir uns auch der Diagnose von Thielen anschließen: „In den neunziger Jahren wurde versucht, mit ideologischen Formeln, toten steinernen Worten wie ‘Postmoderne’ oder ‘Globalisierung’, das notwendige kritische Wissen zu ersetzen, über die Krise der Moderne, die neuen Eigenschaften eines schon längst mundialisierten Kapitalismus und die Spuren und Elemente einer Gesellschaft jenseits der Ultramoderne und des kapitalistischen Weltsystems“. (17)
Es handle sich also immer noch um die Epoche einer chronisch krisenhaften kapitalistischen Vergesellschaftung, einer an sich selbst irre werdenden Moderne, in der das fehlgeschlagene Projekt der Aufklärung in den Mythos, verwissenschaftlichte Sprachmagie und Geschichtsvergessenheit umschlägt. Die „Verabschiedung der Meta-Erzählungen, gerade auch der Meta-Erzählung der Neuzeit – Mathesis universalis – und ihrer Nachfolgeformen“ (18) wird nachdrücklich gefordert. Diese Kapitulation der Vernunft als Pluralismus getarnt, ist jetzt nämlich nicht nur „dominant und obligat“, sondern auch noch total. Es wird postuliert, „dass die postmoderne Pluralität radikaler ist als jede vorherige, so radikal nämlich, dass sie nicht mehr durch Gegenmotive aufgefangen oder überboten werden kann, sondern jetzt konsequenterweise zur Grundverfassung werden muss“. (19) Nur fehlt diesmal jenes unglückliche Bewusstsein der Niederlage und des Umschlagens der Zivilisation in die Barbarei, an die sich z.B. noch die Kritische Theorie klammerte. Dazu die von euphorischem Mitmachertum strotzende Eigendiagnose: „Die Veränderungen von der industriellen Produktions- zur postindustriellen Dienstleistungs- und postmodernen Aktivitäts-Gesellschaft, die ökonomische Umstellung von Globalkonzepten auf Strategien der Diversifizierung, die Strukturveränderungen der Kommunikation infolge der neuen Technologien, das neue wissenschaftliche Interesse an nicht-deterministischen Prozessen, an Strukturen der Selbstorganisation, an Chaos und fraktaler Dimension, die philosophische Verabschiedung des rigorosen Rationalismus und Szientismus und der Übergang zu einer Vielfalt konkurrierender Paradigmen… Die Beispiele wären vom ökologischen Bewusstsein über neuere Feminismen und manche Regionalismen bis zur Wiederaneignung esoterischer Traditionen und zur Anerkennung alternativer Praktiken in der Medizin unschwer zu erweitern“. (20)
Diese sich „anti-totalitär“ gebende totale Vergesellschaftung samt ihres enthusiastischen Bewusstseins wurde 1967 unseres Erachtens treffend von Guy Debord als „Gesellschaft des Spektakels“ beschrieben. „Die Sprache des Spektakels besteht aus Zeichen der herrschenden Produktion, die zugleich der letzte Zweck dieser Produktion sind. (…) Das Spektakel stellt sich als eine ungeheure, unbestreitbare und unerreichbare Positivität dar. Es sagt nichts mehr als: ‘Was erscheint, das ist gut; und was gut ist, das erscheint’. Die durch das Spektakel prinzipiell geforderte Haltung ist diese passive Hinnahme, die es schon durch seine Art, unwiderlegbar zu erscheinen, durch sein Monopol des Scheins, faktisch erwirkt hat. (…) Die Gesellschaft, die auf der modernen Industrie beruht, ist nicht zufällig oder oberflächlich spektakulär, sie ist zutiefst spektakularistisch. Im Spektakel, dem Bild der herrschenden Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst.“ (21) Vor dem Hintergrund der industriellen Produktion von Waren und ihres Austauschs auf dem Weltmarkt erscheint die hochgelobte postmoderne Vermittlung von Ganzheit und Differenz (22) wohl nicht wie die von Adorno ersehnte „Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen“, ein Zustand, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“ (23), sondern als als ein grausamer gesellschaftlicher Zwang, der sich erst durch den Ausschluss aller durch alle mittels Staatsgewalt im Warentausch zusammensetzt.
Es scheint uns, diese Postmoderne oder dieser Postmodernismus, von denen hier so viel die Rede war, ist nicht anderes als das sture, nichts begreifen wollende Selbstbewusstsein einer tiefen und ausweglosen Krise des Kapitalismus. Denn eine sachliche Analyse der gesellschaftlichen Triebkräfte findet mensch bei Wolfgang Welsch nur nebenbei, im kurzen Referieren von soziologischen Feststellungen; bei Rinas sucht mensch danach bezeichnenderweise vergeblich. (24) Ohne dieses Wissen über die Moderne ist auch ihre Aufhebung bzw. Überwindung nicht möglich, aber erst „…(das) wäre ein wirklicher Fortschritt, nämlich über die repressive Moderne hinaus. Er konstituierte eine Postmoderne, die diesen Namen verdiente, nämlich substanziiert, mit Inhalt gefüllt, und nicht mehr, wie bis heute, eine Leerformel, die vorgibt, etwas Neues zu sein wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern“. (25)
Was für (Post-)Anarchismus?
Aus diese Weise will mensch also dem ollen Anarchismus „eine Chance“ geben, den Zug nicht zu verpassen und sich auch endlich der triumphierenden Postmoderne anzubiedern. Es ist unseres Erachtens tatsächlich ein „Modernisierungsbedarf“ (wohl aber kein Postmodernisierungsbedarf) da. Dass „der“ Anarchismus nicht viel von Wirtschaft und folglich nicht viel von seinem Erzfeind Staat versteht, dass er vielerorts zu einer idetitären, sprich ideologischen Jugendsubkultur erstarrt, die das linke Elend mir ihren pseudo-praktischen Ritualen nur noch reproduziert, dass er wahrscheinlich wirklich historisch überholt ist (aber nicht weil zu wenig Day, Kastner oder May gelesen werden) – das wären u.A. die Ansatzpunkte; und nicht die Aufgabe des Anthropozentrismus samt Einführung von Veganimsus und Tierrechten, wollte mensch den Anarchismus tatsächlich „retten“.
Es ist uns, zugegeben, nicht bekannt, wie eng der Veganismus „mit postmodern Tendenzen verbunden“ ist. Wir sind aber der Meinung, dass er sich auch nicht unbedingt postmodern – in diesem Falle nicht-anthropozentrisch – fundieren ließe. Andererseits ist uns ebenfalls nicht bekannt, warum der menschenzentrierte Anarchismus „keine Grundlage für vegan lebende Menschen sein“ (26) kann. Warum also überhaupt diese Verbindung zwischen Anarchismus und Veganismus, die auf Biegen und Brechen zustande kommen muss? Sind Mitleid und der Wunsch, die Welt und sich selbst zum Besseren zu verändern, nicht ausreichend? (27) Wiederum wird es wahrscheinlich nicht ein mal vegan lebenden Menschen selbst einfallen, zu behaupten, der Veganismus wäre genuin anarchistisch: dieser ist auch für moralisierende Appelle an die Staatsmacht und „öko-faschistische“ Tendenzen anfällig. Die Aufgabe des anthropozentrischen Weltbildes aber muss vermutlich selbst für Rinas nicht zwangsläufig zu einer umweltbewusst und tierlieb verbrämten Misanthropie führen. Dass Veganer*innen „ebenso wie Anarchist*innen, eine herrschaftsfreie Gesellschaft“ (28) wollen, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich.
Anstatt sich zu überlegen, wie mensch inmitten unserer geistigen und sehr materiellen Katastrophe die letzten Reste der revolutionären Vernunft retten könnte, sorgt sich Rinas um die fehlende „Corporate Identity“ (29) des Anarchismus in der Postmoderne und schlägt vor, die Leute, jene vermisste soziale Basis des Anarchismus, dort abzuholen, wo sie stehen. „Die Aufgabe lautet also, sich dieser Zielgruppe zu stellen, in diesem Fall der jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich als Vegan/erInnen bezeichnen. (…) würde dies, zumindest den Jugendlichen, die Möglichkeit eröffnen, in der Postmoderne anarchistisch leben zu können“. (30) Sollte das Interesse an solcher Verbindung sich alleine daraus erklären, den Anarchismus den Veganer*innen anzupassen, fragt sich: warum? Das eigentliche Ziel besteht offensichtlich in der Anpassung des Anarchismus an die Postmoderne, andere Gründe ergeben aus Rinas Texten nicht. Die Veganer*innen können das nur besser hinbekommen, weil die angeblich sowohl postmodern als auch anarchistisch sind. Mal von einer fragwürdigen tierrechtlichen/dekonstruktivistischen/heteronormativitätskritischen Praxis abgesehen, auf die wir noch zu sprechen kommen, sind wir gezwungen anzumerken, dass diese „soziale Basis“ eine sehr merkwürdige wäre. Demzufolge wären (junge) Menschen, denen es hauptsächlich um die Verbindung Anarchismus-Veganismus geht, in einer sehr beneidenswerten gesellschaftlichen Situation: es juckt sie die Ausbeutung eigener oder überhaupt menschlicher Arbeitskraft, die Entfremdung, Verdinglichung und Zurichtung des eigenen oder überhaupt menschlichen Lebens nicht; sie verkaufen ihre Arbeitskraft nicht, um für den kargen Lohn die unnützigen Produkte zu erwerben, die sie selber davor produziert haben. Stattdessen besitzen sie wahrscheinlich alle Tattoo- und Piercingsalons, in denen sie sich gegenseitig schmücken. Diese ironische Verzerrung wird natürlich so nicht stimmen, jedoch den Anarchismus einer jugendlichen Mittelschichtssubkultur unterzustellen, der aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess der Gesellschaft die Ausbeutung (noch) erspart bleibt, ist mehr als fragwürdig. Es ist allerdings so, dass der Anarchismus nach dem 2. Weltkrieg, zumindest in Europa, eh eine Subkultur und Szene ist. Mensch kann freilich dem Ganzen noch eine Subkultur beimischen, es wird dadurch nicht besser.
Nun zu den „neuen“ Impulsen, unter denen als wichtigster die dekonstruktivistische Praxis fungiert. „Dekonstruktion versucht, das ‘Mitgesagte’, das ‘Nichtgesagte’ herauszufiltern, also alles, was nicht behauptet und ausgelassen wurde, aber eben doch mitgedacht wurde“. (31) Es ist in der Tat nichts Falsches daran, den ollen Anarchismus seines bürgerlich-revolutionären Ursprungs bewusst zu machen: seines Fortschrittsglaubens, seines Positivismus, der Teilung zwischen der „Gesellschaft“ und dem „Staat“, an denen er immer noch festhält. Doch postmodern anti-anthropologisch gewendet artet diese notwendige Hinterfragung in eine Begriffsjonglage aus, die die Begriffe so weit verflüssigt, dass damit gar nichts mehr ausgedruckt werden kann. (32) Das demonstriert Rinas anhand des oft in anarchistischen Kreisen benutzten Begriffs der Solidarität. Unter der Berufung auf Richard J.F. Days Analysen der neueren sozialen Bewegungen in Nordamerika, postuliert Rinas eine Erweiterung der Solidarität auf Tiere. Doch bei Day, trotz all seiner Sympathien für Poststrukturalismus und „Derridean ethics“, geht es die ganze Zeit um solidarisches Zusammenkämpfen unterschiedlicher Ein-Punkt-Bewegungen, die wenigstens zum Teil dieselben Unterdrückungserfahungen gemeinsam durchmachen. In seinen Beispielen verbinden sich antirassistische, antisexistische, LGBT- und Klassenkämpfe. „Groundless solidarity arises from a precarious ‘unity in diversity’ of its own, a complex set of (partially) shared experiences of what it means to live under neoliberal hegemony, what it means to fight it – and to create alternatives to it. It provides a basis for linking the coming communities, for creating relationships that do not divide us into disparate, defenseless subjects begging to be integrated by the dominant order“. (33) Doch geht es bei Day immer noch um Herrschaftserfahrungen, die Menschen machen, die wiederum einander in ihren jeweiligen Kämpfen unterstützen. Das stellt uns vor solch komplizierte wie ausgelutschte Begriffe wie Herrschaft und gegenseitige Hilfe – denen wir nicht beikommen werden, ohne uns mal mit dem menschenzentrierten Weltbild auseinander zu setzten.
Es würde den Gedanken von „groundless solidarity“ und „infinite resposibility“ etwas ganz entscheidendes fehlen, wären sie genau so auf, wie das Antispeziezist*innen sagen würden, „nicht-menschliche Tiere“ übertragen werden. Mal davon abgesehen, dass es unseren menschlichen Blicken nicht zugänglich ist, dass Tiere außer, dass sie ausgebeutet werden und leiden können, auch noch Kämpfe führen, mit denen mensch sich als menschliches Tier solidarisieren könnte – es würde uns sehr freuen, wenn wir in unseren Alltagskämpfen mehr Solidarität von Tieren erfahren würden. Doch im Ernst: der Begriff Herrschaft ist zwar nicht der Natur entnommen, sondern stammt sehr wohl aus der menschlichen Gesellschaft, ist es trotzdem möglich von der Naturbeherrschung zu sprechen. Im Sinne der Kritischen Theorie verrät der Mensch jedoch bei der Beherrschung der Natur immer auch das naturhafte in sich selbst. Von daher wollen wir der Forderung nach dem Abschaffen des tierischen Leidens nicht widersprechen: in ihm deutet sich an, wie grausam die Gesellschaft zu ihren einzelnen Mitgliedern sein kann. Es stellt sich nur die Frage: durch wen und wie soll das Leiden abgeschafft werden. Was sagt also dazu der neue, nicht-anthropozentrische Anarchismus, der „das noch vorherrschende Menschen- und Weltbild (erschüttert), indem eine radikal neue Bezugsebene mit der Natur erstellt wird“?
Rinas jedenfalls sagt dazu nicht viel, außer dass auch Menschen nicht hinbekommen, unter einander „freie Vereinbarungen“ zu etablieren, was als Folge haben soll, dass „das Menschenbild (des „klassischen“, aufklärerischen Anarchismus – A.d.V.) nicht mehr als der zentrale Unterscheidungsgrund zu anderen Gesellschaftsentwürfen gelten kann“. (34) Wir befürchten aber, dass alle „Gesellschaftsentwürfe“ eh Entwürfe von menschlichen Gesellschaften sein werden, so wie der Bienen- oder Ameisenstaat eben kein Staat ist.
Doch was steckt dahinter, wenn z.B. behauptet wird, „…den Anthropozentrismus als eine Grundlage innerhalb von Unterdrückungsverhältnissen zu sehen, ohne dass dadurch ‘der Mensch an sich’ abqualifiziert werden muss“? (35) Anders gefragt: was ist eigentlich ein emanzipatorisches Projekt, dem der leibliche Mensch in seiner Materialität nicht zum Maß aller Dinge wird? In den von Rinas zitierten flachen Ökonomievortsellungen der Zeitschrift VOICE wird es bereits angedeutet: typisch für alle Zins- und Zinseszinskritiker*innen ist das Wunschbild einer einfachen und gerechten Geld- und Warenökonomie, wo das nach dem Vorbild der Kreisläufe in der Natur „gleichmäßig zirkulierende Geld“ (36) die menschliche Gesellschaft von unnötigen Abstraktionen bereinigt. Als gar nicht so postmoderne Spiegelbild dieser Verblendung dienten der bürgerlichen Gesellschaft seit ihrer Entstehung romantisierte Vorstellungen von Tier und Natur: „Je deutlicher sich das gesellschaftliche Zwangsverhältnis dem archaischen Kampf aller gegen alle anglich, umso stärker sehnten sich die Menschen nach dem Original zurück. (…) Die vegane Tierrechtsszene ist dabei nur der Lautsprecher des allgemeinen Bedürfnisses, im Namen der im Tier verkörperten Natur gegen die verderbte und dekadente Zivilisation anzugehen…“. (37) Was unseres Erachtens dem Tierschutz und dem Veganismus nicht zwangsläufig Abbruch tut. Allerdings stellt die Kritik am männlichen, rassistischen, bis zur Grausamkeit verrationalisierten Subjekt der Aufklärung nicht die Rolle, die alleine der menschlichen Vernunft zukommt, in Frage.
So schrieben Adorno und Horkheimer in „Mensch und Tier“, jenem berühmten Anhang zur „Dialektik der Aufklärung“, der jeder und jedem Veganer*in bekannt sein dürfte: „Die Welt des Tieres ist begriffslos. (…) Die Dauer des Tieres, vom befreienden Gedanken nicht unterbrochen, ist trübe und depressiv. Um dem bohrend leeren Dasein zu entgehen, ist ein Widerstand notwendig, dessen Rückgrat die Sprache ist“. In der auf postmoderne Weise vom widerständigen Denken befreiten Gesellschaft jedoch, „in der die Menschen nach Verlust der Reflexion wieder zu den klügsten Tieren wurden“ (38), kommt es auf allein die Sprachbegabung nicht mehr an. Die postmodern-vegane Redeweise von „menschlichen und nicht-menschlichen Tieren“ verrät, was der Mensch dem Menschen in der Postmoderne sein soll – durchaus in der Tradition des bürgerlichen Denkens: ein Wolf. (39)
Gegenüber „der künstlich angedrehten Magie regressiver Naturfrömmigkeit in der ‘Postmoderne’“ (40), in der die Natur mit „(d)er herrschenden Praxis und ihren unentrinnbaren Alternativen“ (41) zusammenfällt, gilt es für alle sich als emanzipatorisch verstehende Menschen, die Worte von Max Horkheimer hochzuhalten: „Der einzige Weg, der Natur beizustehen, liegt darin, ihr scheinbares Gegenteil zu entfesseln, das unabhängige Denken“. (42) Die Postmoderne ist das Gegenteil davon.
Schlusswort
Wir hoffen, somit dem Wunsch des Autors nach einer Auseinandersetzung entsprochen zu haben. Immerhin sind die Fragen, die er aufwirft, tatsächlich sehr wichtig und sollten weiter diskutiert werden. Damit es jedoch nicht in zu einer Stellvertreter-Debatte verkommt, würden wir es sehr begrüßen, wenn sich auch die nicht-menschlichen Tiere an der Diskussion beteiligen.
Fußnoten:
1) GWR Nr. 340/2009, http://www.graswurzel.net/340/tierrechte.shtml
2) Wir wollen sie bitte nicht als „Diskurse“ bezeichnen.
3) Obwohl die Szene für die unsägliche Beliebigkeit doch sehr anfällig zu sein scheint, Hauptsache sie ist gut genug verakademisiert und vermiest nicht die Pseudo-Aktivität der Szene. So spottete noch Mustapha Khayati 1966 in „Elend im studentischen Milieu“: „Was die verschiedenen ‘anarchistischen’ Grüppchen betrifft, die in dieser Benennung zusammen gefangen bleiben, besitzen sie nichts anderes als diese auf ein bloßes Etikett reduzierte Ideologie. Die unglaubliche ‘Monde Libertaire’, offensichtlich von Studenten verfasst, erreicht den fantastischen Grad an Konfusion und Dummheit. Diese Leute dulden tatsächlich alles, da sie sich untereinander dulden“. http://www.bildungskritik.de/Texte/ElendStudenten/elendstudenten.htm
4) So steht das im Internetauftritt zum jüngsten Buch des Autors „Veganismus. Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?“ (2012): http://veganarchistisch.de/
5) Rinas, Udo-Bernd: Postmoderne-Veganismus-Anarchismus, in: Gai Dao, Sonderausgabe Nr. 6, 2013, S. 18
6) Rinas, Udo-Bernd: Postmoderne-Veganismus-Anarchismus. Andeutungen zu einem nicht-anthropozentrischen, postmodernen und dekonstruktivistischen Anarchismus; in: Anarchismus in der Postmoderne, Hrsg. Jürgen Mümken, Frankfurt a.M., 2005, S. 137
7) Vgl. Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung: die Moderne und der Holocaust, 1994
8) Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1967). Zum Verständnis, woher diese komische Vernunft kommt und warum sie in der Tat gleichzeitig an- und abwesend ist, empfehlen sich Kapitel 5 – 7 aus dem Buch.
9) Aber ist es nicht vermessen, von Menschen, die sich von Berufswegen mit dem postmodernistischen Kauderwelsch auskennen, zu verlangen, dass sie auch die sprachlich durchaus anstrengende „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer) verstehen? Strengt sich die Postmoderne nicht geradezu an, unangestrengt zu wirken?
10) Landauer, Gustav: Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik, Hrsg. Siegbert Wolf, Lich, 2011, S. 83f
11) Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim, 1991, S. 3f
12) Welsch, S. 4ff
13) Rinas, 2005, S. 141
14) Bauman, Zygmunt: Postmoderne Ethik, 1995, S. 62ff
15) Thielen, Helmut: Die Wüste lebt. Jenseits von Kapital und Staat, 2001, S. 122f
16) Vgl. dazu Welsch, 1991, S. 26ff
17) Thielen, 2001, S. 302
18) Welsch, S. 79. Beachte mensch dazu noch, das Rinas neben Libearlismus, Sozialismus, Marxismus auch noch Kapitalismus für eine „Großtheorie“, sprich eine Meta-Erzählung hält. GaiDao, Sonderausgabe Nr. 6, 2013, S. 18
19) Welsch, S. 82
20) Ebd., S. 11
21) Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels“, Thesen 7, 12, 13, 1996; S. 15ff
22) Welsch, S. 60ff
23) Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, 2003, S. 116
24) Es sei denn ein merkwürdiges Plädoyer aus einem veganen Blatt für einen fairen Tauschhandel und „die Ausschaltung von Zins und Zinseszins“, die „höchst wirkungsvolle Mittel der Herrschenden“ seien, also eine an der Oberfläche kratzende Kritik der Zirkulationsspäre im Sinne P.J. Proudhons samt ihrer tendenziell antisemitischen Konnotation. Eine faszinierende Verblendung, die aller Ernstes für emanzipatorisch gehalten wird. Vgl. Rinas, 2005, S. 138
25) Thielen, Helmut: Befreiung im 21. Jahrhundert, 2007, S. 84
26) Rinas, 2013, S. 18
27) Die Verwirrtheit des Ansatzes spiegelt sich zuweilen auf eine wunderbare Weise in solchen Publikationen wie „Das Schlachten beenden!“ (GWR Verlag, 2010). So deutet die Einleitung z.B. einen Tierrechtsdiskurs an, während sich die Autoren aus dem ollen „klassischen“ Anarchismus für einen ethischen Umgang mit Tieren und Natur aussprechen, ohne (na ja, nicht alle) der Verführung zu erliegen, durch die Hintertür des Rechts in die befreite und versöhnte Natur wieder den Staat einführen zu wollen. Siehe dazu die Buchbesprechung in der GaiDao Nr. 2, 2011: http://fda-ifa.org/?attachment_id=718
28) Rinas, 2013, S. 20
29) Rinas, 2005, S. 136
30) Ebd. S. 138
31) Rinas, 2013, S. 19
32) Oder zu einer sehr modernistisch-bürgerlichen Selbstüberhöhung wird, wo sie mittels performativer Sprachmagie, Travestie und Parodie, wie z.B. Judith Butler empfiehlt, die Natur, den Körper nach eigenem Belieben neu zu schaffen meint. Vgl. dazu „Warum ich nicht queer bin“ von Antje Schrupp in GWR 348, April 2010: „Und es leuchtete mir auch absolut ein, jedenfalls auf einer theoretischen Ebene. Allerdings fand ich es nicht wirklich alltagsrelevant. Zum Beispiel änderte diese theoretische Erkenntnis ja nichts an der Tatsache, dass ich schwanger werden konnte, die Männer, mit denen ich Sex hatte, aber nicht. So what“. http://www.graswurzel.net/348/queer.shtml
33) Day, Richard J.F.: Gramsci is Dead. Anarchist Currents in the Newest Social Movements, 2005, S. 202
34) Rinas, 2005, S. 150
35) Rinas, 2005, S. 152
36) http://www.inwo.de/perspektiven/
37) Gerber, Jan: All you can eat, Jungle World Nr. 39, 2008. http://jungle-world.com/artikel/2008/39/23856.html
38) Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 2012, S. 270
39) Oder mit Zygmunt Bauman gesprochen – moderne Industriegesellschaften zerfallen in „Neo-Stämme“, die postmodern mythologisierte Barbarei kehrt auf dem höchsten technologischen Niveau ein. Vgl. Bauman: Postmoderne Ethik, 1995, S. 211ff
40) Thielen, 2007, S. 88
41) Horkheimer / Adorno, 2012, S. 271
42) Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, GS Bd. 6, 1991, S. 135