«Begegnungen feindlicher Brüder. Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung»
Philippe Kellermann (Hg.)
Unrast Verlag, 2011, ISBN 978-3-89771-505-9, 14 Euro
Seitdem es eben diese „feindlichen Brüder“ gibt, wurde praktisch permanent etwas zu ihrem komplizierten Verhältnis untereinander geschrieben. Beide Seiten produzierten fleißig Schmähschriften, etwas weniger fleißig waren leider diejenigen, die sich ernsthaft darum bemühten, zwischen den scheinbar unversöhnlichen Positionen zu vermitteln, damit sie sich wenn nicht in einer Synthese vereinen, dann wenigstens gegenseitig bereichern. Solche Schriften sind auch unterschiedlich ausgefallen, manche waren zwar gut gemeint, blieben aber eher oberflächlich, andere – und du solchen zähle ich das von Phillippe Kellermann herausgegebene Buch – versuchen tiefer zu bohren. Es wäre natürlich nur ein Anfang, oder eher die Fortsetzung der Debatte, denn es ist schier unmöglich, alle Aspekte und Einzelheiten des Streits zwischen Marxismus und Anarchismus in einem dünnen Buch zu beleuchten. Wie vielfältig die Aspekte sein können – davon zeugen die im Buch versammelten Aufsätze. So kommen z.B. Wolfgang Eckhard und Karl Reiter in ihren Beiträgen zum selben Thema, zum Konflikt zwischen Marx und Bakunin bezüglich der Staatlichkeit, zu diametral entgegengesetzten Schlüssen. Antje Schrupp schafft aber im darauf folgenden Beitrag diese Konfliktlinien zu relativieren, indem sie andere aufmacht – nämlich wie widersprüchlich die Frage nach der Emanzipation der Frau in der Ersten Internationale diskutiert wurde. Kellermanns Auseinandersetzung mit Sorel, sich vermeintlich auf Marx, in der Tat aber auf den irrationalistischen Philosophen Henri Bergson beziehenden Syndikalisten, macht richtig Lust sich Sorels Ideen, die sich eher für Rechte als für Linke als nützlich erwiesen haben, näher anzuschauen. Dasselbe gilt auch für Jens Kastners Aufsatz über Antonio Gramsci, dabei sei angemerkt, dass die Auseinandersetzung noch vor Jahren begonnen wurde (siehe GWR 293, 2004), und in ihrer aktuellen Form (logischerweise) viel mehr Sinn macht.
Auch ein angespanntes Verhältnis zwischen der rätekommunistischen Strömung und Anarchismus kommt an mehreren Stellen zur Sprache, was hoffentlich viele LeserInnen animieren wird, weiter in die Richtung nachzuforschen. Trotz des positiven Bezugs Robert Foltins auf die neuere Sozialdemokratie, die in erster Linie durch Hardt und Negri gehypet wird, was m.E. einfach eine falsche Alternative ist, ist wegen seiner schonungslosen, aber solidarischen Kritik an anarchistischer Begriffslosigkeit gerade was den Erzfeind des Anarchismus, den Staat angeht, interessant. Zu dieser Begriffslosigkeit hat sowohl der berühmt-berüchtigte Umstand beigetragen, dass die Geschichte die abstrakte Staatskritik „klassischer“ AnarchistInnen bestätigte und ihre Aktualisierung oft vernachlässigt wurde, als auch die explizite Weigerung vieler AnarchistInnen, sich mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu befassen, ohne die das Erfassen der modernen Staatlichkeit kaum möglich sein wird.
Hoffen wir also, dass die Erkenntnis für beide Seiten des Konflikts (der keiner sein sollte) wichtiger ist, als das Verharren in historisch längst überholten Identitäten und zahnlosen jugendlichen Subkulturen. Hoffen wir auch, dass diese durchaus gelungene Aufsatzsammlung zur Erkenntnis beiträgt.
Ndejra
[erschienen in der Oktober-Ausgabe von Gai Dao, der Zeitung der FdA]