Ӝ Ӝ Ӝ
von Ndejra
Liebe und Geduld, das ist das wahre Geschrei der Hyänen;
o, sie wissen so schrecklich zu winseln, wenn sie diese
Worte uns zurufen, sie wissen die ganze Tonleiter der
Wut dabei so geschickt zu durchlaufen, dass wir vor
diesem Widerspruch der Frechheit allen Respekt bekommen.
Bruno Bauer, „Theologische Schamlosigkeiten“
Der Gerichtswachhund, der bis dahin drei Stunden lang mit
trauriger, gequälter Schnauze neben unserem Käfig gesessen
hatte, spannte sich plötzlich an, krümmte sich leicht krampfend
und kotzte schließlich in einem großen Schwall auf das
Parkett des Gerichtssaals. (…) Den Rest des Prozesstages
beobachteten wir den Hund mitleidig. Das Erbrochene wurde
erst nach drei Stunden entfernt. Wer weiß, vielleicht hatte
man darin ein Zeichen Gottes gesehen.
Nadja Tolokonnikowa über den Prozess gegen Pussy Riot,
„Anleitung für eine Revolution“
Die ROK und ihre 1993 ins Leben gerufene „Weltversammlung des russischen Volkes“ (WdrV) – laut Selbstbezeichnung die mächtigste zivilgesellschaftliche Organisation in Russland – sind wohl die prominentesten Kehlen, die heute die Mixtur aus politischer Reaktion, ukrainischem, syrischem, tschetschenischem und nicht zuletzt russischem Schlamm und Blut lautstark gurgeln. Alle anderen, seien es Verschwörungstheoretiker vom Staatsfernsehen Dmitry Kisseljow, die letzten öffentlich wahrnehmbaren Untoten der untergegangenen Nationalbolschewistischen Partei, Sachar Prilepin und Eduard Limonow, oder der möchtegern-adelige Großgrundbesitzer und Filmemacher Nikita Michalkow retranslieren nur für jeweils ihre Publikumssegmente, was ihnen die Regimeideologen vorbeten. Selbst der nach zurückhaltender Kritik an der vorsichtigen Vorgehensweise Putins in Sachen Ukraine1 in Ungnade gefallene Alexander Dugin darf seine „Geopolitik“ beim privaten religiösen TV-Sender „Zargrad“ weiterhin predigen, gehört also immer noch zu diesem medialen Netzwerk. Doch in letzter Zeit fangen zunehmend Vertreter der Kirche selbst an, die Öffentlichkeit mit ihren kruden Ansichten zu konfrontieren. Neben den skandalösen Äußerungen, die im ersten Teil dargestellt wurden, sei an den relativ neuen Vorstoß erinnert, als der dagestanische Mufti die weibliche Genitalverstümmelung in muslimischen Gegenden Russland verteidigte und lautstarke Unterstützung seitens der ROK erfuhr2. So übernimmt wenn nicht die hohe Geistlichkeit selbst, dann wenigstens ihr Pressesprecher nach und nach die Rolle, die früher nur von faschistoiden Politclowns à la Wladimir Schirinowski gespielt wurde und mit der Strategie der AfD-Funktionäre vergleichbar ist, die den öffentlichen Diskurs danach ausloten, was momentan sagbar ist und was nicht. Im Nachhinein ist es ggf. „selbstverständlich nicht so gemeint“ gewesen.
Um nachzuvollziehen, was die ROK antreibt und in welche Richtung sie wiederum die Politik treiben möchte, lohnt es sich, ihre normativen Dokumente und Beschlüsse der WdrV anzuschauen. Es bietet sich fast schon von selbst an, mit dem Hauptdokument anzufangen: mit der im Jahre 2000 ausformulierten „Sozialen Doktrin der Russischen orthodoxen Kirche“3.
Demnach begreift sich dieser Teil der orthodoxen Weltkirche, der sich ROK nennt, als einen göttlich-menschlichen Organismus, als den Körper Christi. Dementsprechend kann und darf sie nicht von der aktiven Mitgestaltung der Welt fern bleiben und kooperiert zu diesem Zweck, wenn unumgänglich, auch mit einem säkularen, unchristlichen Staat. Sie als Weltkirche will keine Nationen kennen, will mit Paulus keinen Unterschied zwischen „Juden und Nichtjuden“ (Röm. 10, 12)4 machen, es „kommt nicht mehr darauf an, ob (…) euer Volk zivilisiert oder primitiv, ob ihr Sklaven oder freie Bürger seid“ (Kol. 3, 11), sind ChristInnen doch für Petrus „ein heiliges Volk, das Gott selbst gehört“ (1 Petrus 2, 9). Dennoch war auch Menschgott Jesus angeblich ein treuer Untertan des heidnischen Römischen Imperiums, zahlte brav Steuern und rief seine AnhängerInnen eben dazu auf – was aus der bekannten Stelle bei Matthäus 22.16-22 nicht unbedingt folgt. Unmittelbar auf Jesus folgen russische Heilige, die seit jeher patriotisch waren, und die Kirche selbst, die schon immer zur Aufopferung für „den Glauben und das Vaterland“ aufgerufen hatte. Dass sie in Russland nie „ihre eigene“ war, sondern immer der weltlichen Obrigkeit diente, haben wir bereits gesehen. Aus diesen merkwürdigen Prämissen folgt allerdings im Punkt II.3. der Doktrin, dass „der christliche Patriotismus sich gleichzeitig sowohl auf die Nation als eine ethnische Gemeinschaft als auch eine Gemeinschaft der StaatsbürgerInnen“ bezieht. Das Verhältnis zwischen Kirche und weltlicher Herrschaft verändert sich aber im Laufe der Geschichte. Und zwar stellt es sich in seinen unterschiedlichen Formen als eine Geschichte des Verfalls dar, die von der Vertreibung aus dem herrschafts- und gewaltlosen paradiesischen Zustand über die einzig wahre Theokratie der „Richter“ in Israel, die byzantinische Simphonia, die von Peter dem Großem bei Protestanten abgeguckte Synode bis zur Idee der Kirche als einer Einrichtung des öffentlichen Rechts reicht. Was anfangs eine mühsam zurückgehaltene Empörung über die andauernde Demütigung durch den Staat zu sein scheint, mündet jedoch in eine Anerkennung der erzieherischen Rolle des Staates in einer durch die Sünde entstellten Welt. Selig ist diese menschliche Einrichtung freilich nicht, soll aber helfen, noch mehr Sünde durch Zwang zu vermeiden (anders formuliert: „Die Bestimmung des weltlichen Gesetzes ist nicht, die in Sünde liegende Welt in das Reich Gottes auf Erden zu verwandeln, sondern ihre Verwandlung in die Hölle zu verhindern“). Sollte die weltliche Herrschaft aber aus welchen Gründen auch immer nicht dem pädagogischen Auftrag der Kirche folgen und ChristInnen zu schweren Sünden zwingen, dürfen diese mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams ihre Gefolgschaft aufkündigen und ihrerseits zu Regierungswechseln nötigen. Wie sie das mit ihren christlich-patriotischen Gefühlen vereinbaren sollen, wird in der Doktrin nicht verraten.
Ähnlich schwer tut sich die ROK mit dem unliebsamen Recht auf die Freiheit des Gewissens – dem Recht der StaatsbürgerInnen nicht nur der Religion ihrer Wahl nachzugehen, sondern u.U. auch gar keiner Religion anzugehören oder sogar antireligiöse Agitation zu betreiben. Schließlich wird darin auch eine wichtige Bedingung für das Überleben der Kirche in einer gottlosen Welt gesehen. Eingeräumt wird immerhin, dass das Kirchenrecht oder die christliche Ethik zwar durchaus staatliche Gesetze beeinflussen können, ein vollkommen auf christlichen Normen gründender Staat in der sündigen Welt leider nicht möglich ist. Dessen Einrichtung vertagt man in die Zeit nach dem Jüngsten Gericht. Wozu aber dann noch Recht und Staatlichkeit? Diese Frage würde anscheinend zu weit führen und wird nicht einmal gestellt. Die weiteren Ausführungen deuten darauf hin: Die individuellen Rechte kommen Menschen nur insofern zu, als sie Abbild Gottes sind und für sie nur als Mittel zu seinem Dienst für Gott, Kirche, seine Nächsten, für Volk und Vaterland gebraucht werden. Es ist vermutlich genau dieses Rechtsverständnis, mit dem überaktive Gläubige in Russland ihren Mitmenschen auf den richtigen Weg helfen wollen, wenn sie Konzerte, Opern- und Filmaufführungen, Meinungsfreiheit, körperliche Selbstbestimmung von Frauen und Kindern verhindern und verbieten. Aus vermutlich demselben Rechtsverständnis heraus spricht Patriarch Kyrill über Individualismus und Menschenrechte als über heidnische Vorstellungen.
Eine eigene Sichtweise auf die Arbeits- und Eigentumsverhältnisse hat die ROK auch. Nach dem Sündenfall nämlich verlor die Arbeit ihren kreativen Selbstverwirklichungscharakter und wurde zum bloßen Mittel der Lebenserhaltung. Jedoch wird erzieherische, disziplinierende Funktion der einfachen, körperlichen Arbeit gewürdigt. Selbst das Allgemeinmenschliche des Christentums, das uns in der Vorstellung begegnet, dass nichts auf dieser Welt dem einzelnen Menschen gehört, der einzige Eigentümer allen Reichtums und aller Produktionsmittel Gott sei, dass es mitnichten „böse“ sein soll, wenn man reich ist, relativiert sich ein paar Zeilen später mit „geistigem Eigentum“, „rechtmäßigen Eigentümern“ und Verurteilung von Enteignungen aller Art. Nicht relativiert, sondern ganz zunichte gemacht werden diese Ideen von der praktischen wirtschaftlichen Tätigkeit der ROK, die verkürzt im ersten Teil dargestellt wurden. Aber in einer durch die Sünde entstellen Welt kann selbst die heilige Kirche nicht anders.
Wenig überraschend ist auch, dass das in der Sozialdoktrin propagierte Ideal der Geschlechterverhältnisse ebenfalls kein besonders fortschrittliches ist. „Mann und Frau sind zwei unterschiedliche Existenzweisen innerhalb derselben Menschheit“. Sie sind aufeinander angewiesen und stehen komplementär zu einander. Was als großer geistiger Fortschritt durch das Christentum verkauft wird, ist bloß die Heiligsprechung der althergebrachten patriarchalen Männerherrschaft. „Ihr Frauen, unterstellt euch euren Männern, so wie ihr euch dem Herrn unterstellt. Denn so wie Christus das Oberhaupt der Gemeinde ist – er hat sie ja gerettet und zu seinem Leib gemacht – , so ist der Mann das Oberhaupt der Frau“ (Epheser 5, 22-24). Aber vor allem: „Für euch gilt jedenfalls: Jeder liebe seine Frau so wie sich selbst, und die Frau soll ihren Mann achten“ (Epheser 5, 33). Bedenkt man noch die Kampagne der ROK gegen die sogenannte juvenale Justiz, die Kindern und Jugendlichen rechtliche Mittel in die Hand legen soll, sich gegen die Gewalt in der Familie, diese „Kirche im Haus“ wehren zu können, ist die christliche Liebeswelt komplett5. Der Patriarch macht sich stark, wenn nicht für das allgemeine Verbot von Abtreibungen, dann wenigstens für deren Streichen aus dem Programm der staatlichen Gesundheitsvorsorge. „Sagt der Staat: Es ist eure private Angelegenheit, dann betont er seine negative Einstellung gegenüber Abtreibungen. Hilft doch niemand z.B. Alkoholikern und Drogensüchtigen Alkohol und Drogen mit Unterstützung von irgendwelchen Versicherungen zu erwerben?!“6
Nicht nur die Gesundheit Einzelner, sondern auch die Gesundheit des gesamten Volkes geht die Kirche an. Die Einzelnen sollen sich im Zweifelsfall damit trösten, dass Jesus die Welt durch seine Wunden heilte, die Doktrin aber ruft sowohl die Priester als auch Gläubige zu Missionsarbeit unter dem Medizinpersonal. Man ist gegen die sogenannte „Alternativmedizin“ und andere okkulte Praktiken, dafür aber für die Priorität des geistigen Lebens, vor allem im Jenseits. Bioethik, Demographie, willkürliches Herumpfuschen am Gotteswerk, Abtreibungen und Verhütungsmittel interessieren die Kirche überaus. Es sieht fast so aus, als würde die Menschheit aussterben, würde die Kirche sie nicht immer wieder zum Kindermachen unter Androhung von Höllenqualen animieren. Organ-, Samen- und Eizellenspenden, Befruchtung von alleinstehenden Frauen oder – um Gottes willen! – Homosexuelle mit Kinderwunsch zerstören die Einheit des Individuums, welches sich ohnehin dem Kollektiv fügen und am besten noch gesund bleiben soll. Man verstehe es wie man will, göttliche Logik ist keine menschliche. Bekanntlich predigt die Kirche die körperliche Auferstehung pünktlich zum Jüngsten Gericht, doch wie es hierbei Menschen mit transplantierten Organen ergehen soll, auf welcher Seite des Gottes Throns sie dann sitzen, steht leider nicht in der Bibel. Man fühlt sich nicht mehr so sicher in dieser Hinsicht.
Marktwirtschaft, die weltweit Völker aus den rigiden Wirtschaftsordnungen befreite und schöpferische Kräfte in ihnen entfachte, begrüßt die ROK erst einmal grundsätzlich. Aber man soll es mit Individualisierung und kreativem Streben nach Profit nicht zu bunt treiben. Denn, so heißt es in der Kurzfassung des wirtschaftlichen Teils der Doktrin:
„In der ganzen Welt blühen Korruption, aggressive Konkurrenz, stolze Anmaßung des Überkonsums und der Befriedigung niedriger Instinkte. Immer öfter lockt das moderne Business die Menschheit durch Beispiele von unethischem Benehmen in den breitesten Maßstäben. Eben deshalb müssen die christlichen Konfessionen jetzt unter den Bedingungen der Globalisierung der Weltwirtschaft ihren Beitrag zur Verbesserung des moralischen Klimas der modernen Wirtschaft leisten. Die geschichtliche Erfahrung der Welt zeigt, das es ohne Kirche als soziale Institution nirgends gelang, Bedingungen für ein ehrliches Business zu schaffen, und jetzt entsteht die Notwendigkeit der Einigung der Bemühungen der gläubigen Menschen, die auf ein Entstehen solcher Bedingungen gerichtet sind. (…) Die Kirche beunruhigt die Praxis der finanziellen Spekulationen, welche die Abhängigkeit der Einkünfte von der getätigten Arbeit aufhebt. Ein Beispiel für solche Spekulationen sind Finanzpyramiden, deren Zusammenbruch weitläufige Erschütterungen hervorruft. In letzter Zeit erlangten auch Valutenspekulationen größte Verbreitung, und besonders Spekulationen mit sekundären Wertpapieren, den sog. „Derivaten“, die nicht nur die laufenden ökonomischen Prozesse im realen Sektor falsch widerspiegeln, sondern in Wahrheit ein Instrument für die Bereicherung der Finanziers sind“7.
Die Ideologen der ROK plädieren für keine idyllischen Agrargesellschaften, die in religiöser Selbstbegrenzung technologisch unterentwickelt bleiben, sie können auch anders. An einer anderen Stelle geht es entschieden gegen zwei Auswüchse einer gottlosen globalisierten Wirtschaftsordnung: „Environmentalisten schreiben der überpersonalisierten Natur die höchste Bedeutung zu. Dabei übersteigt ihr Wert den Wert des Individuums maßlos. Im Neoliberalismus kontrollieren gesichtslose Marktmechanismen das Schicksal des Menschen. Sie bestimmen das ganze Spektrum menschlichen Handelns, indem sie als ‘zureichender Grund’ u.a. auch von sittlichen Normen auftreten. (…) Neoliberalismus und Environmentalismus sehen zufällig entstehende Markt- und Naturordnungen als perfekt an im Vergleich zu rationalen und künstlich geschaffenen“8. Da „das Christentum die Welt deanonymisiert“ hatte, lassen sich diese zwei Gefahren sehr einfach abwenden: Man erkläre nur das zufällige Markt- und Naturgeschehen zum undurchschaubaren Werk Gottes und schon sind die Kräfte gar nicht anonym und böse.
Auf das Problem mit Finanzspekulationen und Einkünften, die von der eigenen Arbeit nicht direkt anhängen, findet man eine deutlich praktischere Antwort. Der Club „Der russische Unternehmer“, dem Unternehmer mit „christlich-orthodoxen, traditionellen nationalen geistig-sittlichen Einstellungen“ angehören, stellte auf einer Versammlung der WdrV fest: „Charakteristisch für die jüngste große soziale Depression sind Bürgerkriege an unseren Grenzen, feindliche Einstellungen des Westens, Abhängigkeit der Wirtschaft von Auslandswährungen und Importen“. Es sei wichtig, „die Diktatur des Egoismus“ zurückzuweisen und ein neues, „russisches Wirtschaftsmodell“ zu kreieren. Dabei ließ man sich in einem so multikonfessionellen Land wie Russland von muslimischen Kollegen inspirieren: „Es geht um eine Alternative zur Ökonomie des Zinses, zur Ökonomie des Wuchertums. Hier sind soziale Regulatoren höherer Ordnung wichtig – geistig-sittliche und moralisch-ethische“. Denn das liebe „Geld soll keine Ware sein“9. Und tatsächlich, wenn das sogenannte „islamic banking“10 in muslimischen Gegenden des Landes auf dem Vormarsch ist, warum sollte man das Modell nicht einfach adaptieren und ins „christlich-orthodoxe banking“ umbenennen? Bereits 2015 gründeten die ROK und der Muftirat Russlands eine gemeinsame Kommission, die sich mit „traditionellen Finanzsystemen“ beschäftigen und u.a. ein christlich-orthodoxes Bankingsystem in die Wege leiten soll11. Hoffentlich werden Imageprobleme, die die kirchennahe Bank „Pereswet“ im Oktober 2016 hatte, kein schlechtes Licht auf diese grundsätzlich richtigen Ratschläge werfen12.
Da die Kirche allerdings der Hauptproduzent von berüchtigten „geistigen Fesseln“ bleiben möchte, die die nicht weniger berüchtigte „russische Welt“ zusammenhalten sollen, schaut sie sich immer wieder gerne nach nach den Kriterien des „Russisch-Seins“ um. „Die Abstammung von russischen Eltern wird meistens zum Ausgangspunkt eines russischen Selbstverständnisses, was dennoch niemals die Möglichkeit ausgeschlossen hat, dass Angehörige anderer nationaler Milieus sich dem russischen Volke anschließen und russische Identität, Sprache, Kultur und religiöse Bräuche annehmen“, heißt es in einer Deklaration der WdrV13. Selbstverständlich geschah das immer freiwillig. „Auf diese Weise traten Tataren, Litauer, Juden, Polen, Deutsche, Franzosen und Vertreter anderer Nationalitäten dem russischen Volk bei. Die Geschichte Russlands ist voll mit solchen Beispielen“. Unaufhörliche Kriege, „Befriedungen“ und Massenumsiedlungen aufständischer Provinzen, zentrifugale Tendenzen während jeder Schwächeperiode des Großreichs – alles aus Überschwang der Geschwisterliebe. Das Hauptkriterium ist natürlich der christlich-orthodoxe Glaube, ansonsten darf man sonst wo auf der Welt leben und muss u.U. auch kein gläubiger Mensch sein. Nur daran, dass der rechte Glaube die Grundlage des geistigen Lebens des russischen Volkes bildet, daran darf man nicht zweifeln, will man sich denn unbedingt zu ihm zählen.
Spätestens beim „Aufruf des Diskussionsclubs der WdrV an Russlands denkende Menschen“14 wird der alte Eurasismus der „Weißemigration“ deutlich sichtbar: Antiliberalismus, Anti-“Atlantismus“, nach Carl Schmitt riechende Geopolitik, Russland als einzigartige (und unfasslich friedliche dazu!) Zivilisation in einer multipolaren Welt des Ethnopluralismus. Da man sich verpflichtet fühlt, zivilisatorische Diversität auf dem Planeten zu bewahren, wird erst einmal eine deutliche Abfuhr an Dominanzansprüchen des Westens erteilt. Seine Macht und Reichtümer wurden nicht auf faire Weise, sondern bei der Ausbeutung der Überseekolonien erworben. Ein Steppenimperium funktioniert in dieser Hinsicht schon viel fairer. Man solle bloß nicht zum „ethnographischen Material für fremde Zwecke“ werden, über die eigenen muss man an dieser Stelle nicht reden, die soll jedeR RussIn ohnehin schon im Herzen haben. Die Vorgeschichte der Rus’ sei 988 zu Ende gewesen, Russland übernahm die unverzerrte Lehre Christi vom byzantinischen Reich und trägt es nun weiter. 1945 änderte sich der Lauf der Geschichte noch einmal nachhaltig: Dank des russischen Sieges gibt es keine ideologische Rechtfertigung für Herren- und Sklavenvölker mehr auf der Welt. Man war sogar so selbstlos, dass man entgegen aller Vernunft den Kontinent nicht Richtung Süden, hin zu besserem Land und zum Meer, sondern in ost-nördlicher Richtung besiedelte. „Die russische Geschichte war die Geschichte der Überwindung von Russlands Geographie“. Und nun stellt man fest, dass die Produktion für den Weltmarkt aus klimatischen Gründen zu teuer ist; wirtschaftliche Autarkie einer Eurasischen Union bietet sich wie von selbst an15. Während der Westen sich hauptsächlich auf dem positiven Recht und der Osten auf traditioneller Ethik gründet, fußt russische Zivilisation auf einer zielweisenden Ideologie. Wie sie aussehen soll, wird noch nicht verraten; man weiß nur, dass es ohne nicht geht. Und es ist keineswegs totalitär, es ist vielmehr solidarisch, wenn man sich aus freien Stücken der hehren nationalen und zivilisatorischen Pflicht unterwirft; Solidarität heißt, wenn sich das Volk mit der Regierung einig fühlt.
Der Weg zur Einigung lässt sich durchaus präzisieren. Den beschreibt man mal als die Synthese von „linken“ und „rechten“ Vorstellungen in der Politik16. Da Revolutionen und ähnliche gesellschaftliche Zerwürfnisse nur Chaos und Destabilisierung mit sich bringen, ist es doch naheliegend, „rechts“ und „links“ jetzt schon prophylaktisch zu vereinen. Und was lernt man von beiden politischen Lagern? Dass die Idee der Menschenrechte ein leeres Abstraktum ist und wenn es darum geht, eigenes und fremdes Leben für eine höhere Idee zu opfern, man das ruhig tun solle. Diese Vorstellung teilen ChristInnen angeblich mit den „Rechten“. „Priorität des Ideellen über das Materielle, das biblische und von den Kirchenvätern überlieferte Wuchereiverbot, Ideale der Selbstbegrenzung und Bescheidenheit im Konsum, die Reinheit des sittlichen Empfindens, welches kein System rechtfertigen kann, in dem aus Geld noch mehr Geld wird und das Glück manchmal schwerer wiegt ist als das Werk eines ganzen Lebens – all das bringt die russische Zivilisation einer neuen Dimension der linken Ideologie näher“. So weit die Synthese, nur die Extreme beider Ideologien sollte man meiden, sonst wird es unchristlich: „Christus ist kein Kommunist… Aber er ist auch kein Chicago Boy“.
Ein anderes Mal formuliert man die Synthese anders, als „sozialen Monarchismus“17. „Staatlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität – drei Werte, von welchen ausgehend wir ein System aufbauen sollen, das Monarchie und Sozialismus vereinen würde“. War etwa die dirigistische, staatlich gesteuerte Wirtschaft unter Nikolaus II. nicht in gewisser Weise schon sozialistisch? Vor allem war bei der Zarenherrschaft keine Einflussnahme durch Oligarchen, Magnaten, sprich Großkapital, auf die Politik möglich. Ja, eine Monarchie ist bereits so gut wie sozialistisch. Der Herrschaftslogik nach steht der Monarch über allen Einflussgruppen, kümmert sich gleichermaßen um sie alle und versucht sie gleichzeitig von sich fern zu halten, hält praktisch die ganze Gesellschaft in Gleichgewicht. Der Sozialismus wiederum ist offensichtlich monarchistisch, zumindest autokratisch – man siehe sich nur Maos oder Stalins Herrschaft an. Reimt sich also doch Zarenherrschaft in Russland mit der kleinen Bauerngemeinde des „Mir“? Oder eher mit der Leibeigenschaft und der Vorstellung von einem sauberen zivilisierten Russland, welchen das andere, ungewaschene Russland immer zum anständigen Arbeiten zwingen musste? Alles diskutable Fragen, eins aber steht definitiv fest: Der Zar wird alles richten.
So sehen in Kürze die Vorstellungen aus, die die ROK aktiv in alle Lebensbereiche der Gesellschaft hinein trägt. Sie sollen an dieser Stelle für sich stehen. Interessant wäre darüber hinaus, wie viel Zuspruch diese „unverbindlichen Angebote“ einerseits bei den Herrschenden und andererseits beim gemeinen Volk erfahren. Manchmal wird man selbst für heutige Verhältnisse etwas unverschämt. Mal werden die „Angebote“ zwar unverbindlich, aber mit einer selbst für die Kirche ungewohnten Militanz unterbreitet: „Wir müssen von der Rolle demütiger BittstellerInnen zur Rolle von VertreterInnen einer gesellschaftlicher Macht übergehen, die die Mehrheit unseres Volkes vertritt. (…) Niemand wagt es, uns ‚Nein‘ zu sagen, niemand wagt zu sagen, dass mit uns kein Dialog geführt wird“, sagte letztens der ehemalige Pressesprecher der ROK Wsewolod Tschaplin18.
Mal ist das eigentliche Problem des heutigen Christentums und Russlands, dass man angeblich verlernt habe, Sklave zu sein:
„Sklavenpsychologie ist kein geheimer Subtext, es ist die normale Weltwahrnehmung eines orthodoxen Christen. Die ganze moderne Gesellschaft betet das Idol sozialer Rechte und Freiheiten an. Und nur die orthodoxe Kirche behauptet, dass der Mensch ein rechtloser Sklave Gottes sei. (…) Also haben unsere Kritiker Recht, wir sind eine sehr bequeme Religion für den Staat. Aus diesem Grund erschuf das Christentum große Imperien. Denn nur orthodoxe Sklaven sind zu einer großen Selbstaufopferung zu Kriegs- und Friedenszeiten fähig. Selbst die UdSSR konnte sich in den Grenzen des russischen Großreichs nur dank des Potentials der Sklavenpsychologie wiederherstellen, die beim russischen Volk noch unterbewusst vom orthodoxen Glauben übrig blieb. (…) Um die Wahrheit zu begreifen, sollen wir aufhören nachzudenken und anfangen, uns wirklich für niemanden zu halten und unsere Namen abzulegen. Kurz gesagt, wir sollen einen Sklaven in uns großziehen. Der Weg zum gottesfürchtigen Sklaventum führt über die Unterwerfung unter einen anderen Menschen: die Kinder ihren Eltern, die Ehefrau ihrem Mann, der Christ dem Priester, der Bürger dem Staat samt all seinen Beamten und Repressionsorganen mit dem Präsidenten. (…) Nur wenn wir in uns die Sklavenpsychologie erziehen, werden wir nicht nur jenes verlorene Russland wieder aufbauen, sondern auch ins Reich Gottes eintreten, dessen Tore für alle ‘freien’ Ungläubige verschlossen bleiben“19.
Die Äußerungen blieben nicht ohne Widerspruch seitens der Öffentlichkeit. Wie steht es aber mit den Herrschenden? Dies zu bestimmen ist, zugegeben, etwas schwieriger. Vielleicht geben zwei Kirchenkritiker, die unterschiedlicher nicht sein und einander kaum ausstehen können, uns wenigstens einen brauchbaren Hinweis? So schreibt etwa der Journalist und glühende Priesterhasser Alexandr Newzorow:
„Lange Zeit existierte die Illusion, dass die ROK mit jeder Art der Staatsideologie perfekt fusionieren und nur gemeinsam mit ihr auch untergehen kann. Genau das lehrte die Orthodoxen die zu diesem Zwecke erfundene Geschichte Russlands. Etwas Ähnliches flößte ihnen der Ideologe des russischen Nazismus Fjodor Dostojewskij ein. Das verlieh den Popen schon immer eine unglaubliche Sicherheit, was das Schicksal des eigenen Geschäfts und das Wohlergehen der Zunft betraf. Mit nichts zu handeln ist natürlich ein besonders lukratives Geschäft. Aber auch ein äußerst fragiles, denn es hängt völlig von Stimmungsschwankungen der Regierung ab. Und außerdem davon, wie überzeugt die Herrschaft von der Effektivität der Kirche ist. Panisch das Land vor dem Zerfall rettend, nutzt der heutige Kreml natürlich alles, was ihm unter die Hände kommt. Alles, was das Land „fesseln“ kann, ohne dass er sich sonderlich um die Qualität dieser Fesseln kümmert. Unter Anderem auch die Kirche. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass er früher oder später die absolute Untauglichkeit der ROK bemerkt“20.
Ungefähr gleichzeitig mit ihm deutete der Protodiakon Andrej Kurajew, ein ebenfalls bekannter Kritiker der – allerdings eigenen – Kirche, das baldige Ende der Möchte-gern-Simphonia, für die es wohlgemerkt im säkularen Staat Russland immer noch keine gesetzliche Grundlage gibt.
„…diese Symphonie und gegenseitige Unterstützung dauern bis zu dem Moment an, sobald vertrauenswürdige Soziologen dem Staatsoberhaupt melden, dass die Beliebtheitswerte des Patriarchen die seinen herunterziehen. Sollte der Patriarch also kein Flügel mehr sein, der die Vertrauenswerte der Macht emporhebt, sondern zu einer Bürde werden, kann sich das alles sehr schnell ändern. Und es sieht danach aus. (…) Irgendwie bekommt der Patriarch keinen normalen Dialog mit der Öffentlichkeit hin und ich glaube, es ist auch seine Schuld. Weil er diesen Dialog aus allen Kräften meidet. Er entzieht sich völlig, kein online, kein faires Gespräch, Antworten gibt es nur auf zuvor vorbereitete Anfragen durch erlesene Leute usw. Keine Erklärungen eigener Handlungen. (…) Also traust du den Leuten nicht, erklärst ihnen weder, wofür du Kirchengeld sammelst noch, wofür du es ausgibst, keine Motive deiner Bestrafungen oder Auszeichnungen, es gibt keine Motive. Deswegen gibt es auch kein Vertrauen“21.
Was es andererseits für das Regime Putin bedeuten würde, sollte es eine seiner Lieblingslegitimationsquellen der letzten Dutzend Jahre verlieren, ist bis jetzt auch noch nicht abzusehen. Vielleicht ist das Gefüge der Macht ja gar nicht so fest, wie es aussehen möchte. Amen.
1Faszinierend, aber zum analytischen Vokabular Dugins Geopolitik gehörten damals Begriffe wie „solarer“ und „lunarer Putin“, was in Anlehnung an Julius Evolas okkulte Politikkonzepte so viel heißt wie „passiv, weiblich“ und „aktiv, männlich“. Wladimir Wladimirowitsch lässt sich aber nicht gerne „lunar“ nennen. Siehe dazu: https://magazin.spiegel.de/digital/index_SP.html#SP/2014/29/128101577
3http://www.patriarchia.ru/db/text/141422.html Zum Vergleichen in deutscher Kurzfassung hier: http://www.orthodoxeurope.org/page/3/16.aspx
4Zitate wurden mit „Neues Testament mit Psalmen“ (2010, Dillenburg) abgeglichen.
6http://www.vrns.ru/news/4270/#.WD85uWcxmk0 So spricht der Gesundheitsexperte, der bekanntlich Ende 90er viel Geld am unverzinsten Alkohol- und Tabakimport ins viel gelittene Russland gemacht hatte. Siehe dazu den ersten Teil dieser Abhandlung.
10Die Funktionalität des Systems wird allerdings in der Fachwelt angezweifelt. Muslime können, wie es aussieht, auch rechnen: http://www.welt.de/politik/ausland/article147700368/Allahs-gescheiterte-Banker.html
12Laut eines Berichts der Ratingagentur „Fitch“ Anfang Oktober 2016 gab die Bank etwa 12 Mrd. Rubel für sehr risikoreiche Krediten aus. Kreditnehmer sollen untereinander oder mit der Bankführung liierte Unternehmen ohne reale Aktiva sein. Die Agentur zweifelte an der langfristigen Stabilität des Finanzinstituts. http://tass.ru/info/3723003
15Wir erinnern diesbezüglich gerne an eine vergleichende Analyse des russischen und des ukrainischen Nationalismus: „Die ‘russische Welt‘ kann anderen Ländern nichts außer einer Zollunion anbieten. D.h. nur ein Hinauszögern vom Ende der militärisch-bürokratischen Apparate postsowjetischer Staaten unter den Bedingungen regionaler Halbautarkie. Die reaktionäre wirtschaftliche Konzeption der Globalisierungsumkehr muss eine genauso reaktionäre Ideologie erzeugen“. https://dasgrossethier.wordpress.com/2015/10/26/bruederkrieg-forever/
19So der Priester der UOK-MP Alexij Tschaplin letztens: http://www.blagogon.ru/digest/737/
Literatur:
Bauer, Bruno (1968): Feldzüge der reinen Kritik. FfM
Tolokonnikowa, Nadja (2016): Anleitung für eine Revolution. Berlin