Herbert Maridze
[Wir dokumentieren weiterhin Bemerkenswertes aus den Diskussionen, die mensch in der anarchistischen Bewegung Russlands führte, besonders weil es wieder mal mit Tschetschenien zu tun hat. Viel klüger wird mensch daraus nicht und, zugegeben, es könnte einem/r angesichts der Tatsache gruseln, wie viel Verständnis die ansonsten sehr individualistisch geprägte ADA für die «Völker» aufbringen konnte. Desweiteren erinnern wir gerne an ähnliche Beiträge: «Anarchismus in Russland nach dem Zerfall der Sojewtunion», «Russland: Land unter Füßen» und «Den Krieg wollen nur Politiker» – liberadio]
Während der gesamten Menschheitsgeschichte ging die Existenz des Staates mit der Unterdrückung nicht nur des eigenen Volkes, sondern auch anderer Völker einher und gründete öfters darauf auf. Kein Wunder also, dass sozial-revolutionäre Bewegungen von den Ideen nationaler Befreiung nicht zu trennen sind. Das 20. Jahrhundert war in diesem Sinne keine Ausnahme. Es genügt, an die nicht zu widerlegende Tatsache zu erinnern, dass der Zusammenbruch der Zarenherrschaft in Russland und der Zerfall der UdSSR von einer Reihe von Aufständen gegen nationale Unterjochung begleitet waren. Es ist gut möglich, dass das Regime der Russländischen Föderation (RF) nach ähnlichem Muster vonstatten geht. Die Frage der Befreiung der versklavten Völker ist traditionell eine Überlebensfrage für den russischen Staat und von daher von besonderer Aktualität für russische AnarchistInnen.
Es scheint, die nationale Frage als theoretisches Problem würde sich der anarchistischen Bewegung nicht stellen. Der Anarchismus ist gemäß der Definition eine international(istisch)e Lehre. Immer mit den Unterdrückten gegen die UnterdrückerInnen! – mit diesem Ausruf von Makhno legte der Anarchismus seine Position zum Problem der Nationalitäten fest, sobald es zum Objekt theoretischer Überlegungen wurde. Umso aktueller stellt sich die Frage der praktischen Anwendung der internationalistischen Prinzipien in der alltäglicher Politik.
AnarchistInnen stehen nach wie vor an der vordersten Front im Kampf gegen Faschismus und Nationalismus. Es vergeht kaum eine Woche ohne neue Nachrichten über Auseinandersetzungen mit Nazis, Verteidigung von Versammlungen und Konzerten, Graffiti-Attacken. Ob mensch solche Arbeit braucht, ist eine rhetorische Frage. Sie ist unabdingbar! JedeR AnarchistIn soll nach Kräften im Straßenkampf gegen Neonazismus und mit allen Mitteln seine/ihre GenossInnen unterstützen, die diesen Kampf führen. Ist solcher Kampf ausreichend? Nein! Wenn wir nicht zu einem militanten Flügel irgendeiner liberalen oder kommunistischen Partei werden wollen, müssen wir unsere eigene nationale Politik betreiben, die auf anarchistischen Prinzipien basiert. Aber es genügt ein Blick, um zu sehen, wie langsam sich die anarchistische Bewegung an den „nationalen Rändern“ entwickelt; dass bis jetzt fast keine Arbeit mit Minderheiten organisiert wurde; und schließlich, dass die Einstellung vieler AnarchistInnen zum Krieg im Kaukasus sich gänzlich auf Antimilitarismus beschränkt. Da sieht mensch, dass die nationale Frage nicht nur nicht gelöst ist, sondern von der modernen anarchistischen Bewegung nicht ein mal gestellt wurde.
Die Nationalitätenfrage war nie eine „Hauptfrage“ für AnarchistInnen, und wird es auch nicht. Welche auch immer Formen die Herrschaft von Menschen über Menschen annehmen möge – sei es die der nationalen Unterdrückung oder der „wirtschaftlichen Ausbeutung“, am dringendsten und wichtigsten wird für uns das Problem der Herrschaft bleiben. So wird es auch bleiben solange es noch Herrschaft gibt. Aber jene nationalen, kulturellen, religiösen Unterschiede, die es zwischen den Menschen gibt, dürfen nicht ignoriert werden. Im Gegenteil, wir müssen entschieden den Schritt weg von jener Tradition machen, die die Wahl eines religiösen Glaubens und der nationalen Zugehörigkeit zu einer rein privater Angelegenheit erklärte, die mit dem politischen Kampf nicht zu tun hätte. Die in abstrakten Vorstellungen von Bourgeoisie und Proletariat denkenden MarxistInnen können sich das noch erlauben. Die AnarchistInnen jedenfalls erinnern sich noch daran, dass sowohl Herrschaft als auch das Volk nur durch ihre konkreten TrägerInnen existieren, dass der Staat beständig jegliche nationalistische Konflikte herstellt, am Laufen hält und skrupellos ausnutzt; aber es wäre eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit, aufgrund dessen Menschen des Rechtes zu berauben, auf politischem Wege ihre nationalen Interessen umzusetzen.
Die moderne Auffassung von der Nationalität ist für viele untrennbar mit der Existenz des Staates verbunden. Die meisten europäischen Nationen wurden – mittels Vereinheitlichung und Assimilierung – von zentralistischen Regierungen geschaffen und dieser Prozess ist längst noch nicht abgeschlossen. Vielleicht eine der gefährlichsten Herausforderungen für die staatenlose Gesellschaft wird der Zerfall von solchen „staatenbildenden“ Ethnien sein. Etwas Ähnliches haben wir Ende 1980er Jahre in Karikaturform beobachten können, als sich herausstellte, dass das abstrakte „sowjetische Volk“ aus konkreten RussInnen, LettInnen, GeorgierInnen bestand und die monolithische Einheit verloren ging.
Die Existenz des Staates ist untrennbar von nationaler Unterdrückung und Imperialismus. Die Politik der RF, die mittels Völkermords den Staat um das russische Volk „konsolidiert“ und Konflikte im Kaukasus, in Baltikum, in der Ukraine und Moldawien schürt, liefert täglich Beispiele dafür. Aber trotz jahrhundertelanger Konsequenz der staatlichen nationalen Politik und anarchistischer Kritik daran sollte mensch eine Reihe bedeutender Umstände berücksichtigen, die sich zum Teil verändert haben und teilweise sich in den letzten 20 Jahren dieselben geblieben sind.
Das, worüber unbedingt gesprochen wird, wenn mensch die nationale Frage in Russland des 21. Jahrhunderts meint, ist die ruckartige Abnahme der Geburtenzahlen. Die das russische Volk heimsuchende demographische Katastrophe wird stets von einer Reihe faschistischer und neonazistischer Ideologen instrumentalisiert, die heute im staatlichen Fernsehen beschäftigt werden. Ihre besondere Wut gilt dem Umstand, dass fast alle nordkaukasischen Völker, das tschetschenische inklusive, in den letzten Jahren einen steten Bevölkerungszuwachs demonstrierten. Alle Maßnahmen zur Überwindung der demographischen Krise staatlicherseits beschränkten sich auf die Unterstützung von Eltern. Die Mutigsten sprechen vom Rückgang der Sterblichkeit, Reformen in der gesundheitlichen Vorsorge usw. Aber so oder so sehen sie einen Ausweg in einer noch größeren staatlichen Regulierung und Kontrolle. Mensch muss allerdings keinE AnarchistIn sein, um die am meisten ins Auge stechenden Bestandteile des von der Staatsraison diktierten Genozids am eigenen Volke zu sehen, der von der Regierung der RF durchgeführt wird: der Krieg im Kaukasus, Ausbreitung des Alkoholismus, das penitentiare System. Man muss auch nicht überklug sein, um den einzig möglichen Schluss ziehen zu können: heutzutage, wie auch vor 300 oder 500 Jahren, der Hauptfeind des russischen Volkes ist der russische Staat. Eine ausbalancierte staatliche demographische Politik kann zweifellos kurzfristig zu positiven Resultaten führen, wie sie es im Nazideutschland tat. Die Geschichte aber zeigt allzu deutlich, was für Konsequenzen blindes Vertrauen zu Diktatoren für gewöhnlich hat.
Heute, wie auch vor 300 oder 500 Jahren, lebt der russische Staat wirtschaftlich wie politisch vom kolonialen Raubbau an „nationalen Rändern“. Die Verwandlung der RF in eine Venezuela-ähnliche Erdöl-Republik verdeutlicht diese Tatsache nur. Die AnarchistInnen immer erkannten und erkennen den natürlichen Kampf eines jeglichen Volkes an, das vom russischen Imperium unterjocht wird. Unter diesen Völkern gibt es solche, die, wie mensch sagt, „freiwillig“ die Herrschaft des „weißen Zaren“ anerkannt haben, sowie solche, auf deren Boden die Ressourcen für den „Stabilisierungsfonds“ abgebaut werden – sprich, für den Fonds zur Führung von Eroberungskriegen und zum Abwehr von Aufständen. Aber am häufigsten werden die Graswurzelbewegungen für nationale Selbstbestimmung von VertreterInnen so genannter lokaler „Eliten“, die die Befreiung von der Zentralregierung nur in Form von Nationalstaaten unter eigenem unaufdringlichen Patronat denken können, für ihre eigennützigen Interessen ausgenutzt. Bergkarabach, Transnistrien, Abchasien, Süossetien, Tschetschenien… Zu einem Stolperstein für viele linke AnarchistInnen wurde, dass überall in den Regionen der ehemaligen UdSSR, wo die Völker versuchten, ihr Schicksal ohne die Empfehlungen von Verschwörern aus dem Białowieža-Urwald zu gestalten, diese Prozesse in Richtung des staatlichen Aufbaus gingen. Das diente sogar als Anlass dazu, jede nationale Befreiungsbewegung a priori für reaktionär und schädlich für den Zweck der Weltrevolution.
Für eine Situationsanalyse dieser Länder wären umfassendere und genauere Informationen nötig, als die, die uns zur Verfügung stehen. Für die erste Annäherung aber müssen wir prinzipiell einsehen, dass die nationale Selbstbestimmung, Separatismus und Gründung von neuen Staaten unter dem Deckmantel nationaler oder religiöser Ideen drei unterschiedliche Problemfelder sind und nicht eines, wie mensch oft denkt.
1. Anarchisten erkennen bedingungslos das Recht eines jeden Volkes, einer jeden ethnischen oder welcher auch immer Gruppe an, nach ihren Sitten, Bräuchen und Vorstellungen zu leben, solange sie das Leben anderer Menschen nicht stören.
2. Wir glauben, dass das menschliche Vermögen zur gesellschaftlichen Kreativität grenzenlos ist, und akzeptieren jegliches gewaltfreie Streben zur Assimilation, zum gemeinsamen oder getrennten Leben sowohl einer jeden Ethnie als Ganzes als auch ihres jeden einzelnen Mitglied.
3. Wir sind entschieden gegen jegliche Formen national-staatlicher Gründung, und weisen darauf hin, dass niemand so eifrig mit „nationalen Interessen“ handelte, so leicht Tür und Tor für Angreifer öffnete, so zynisch seine Schulden mit dem Blut des eigenen Volkes zahlte als es „nationale Regierungen“ getan haben und immer noch tun. Wahrlich, wollt ihr den freiheitlichen Geist brechen und die Traditionen eines Volkes zerstören, gebt ihm seinen „eigenen“ Staat.
Wie wollen wir diese Prinzipien anwenden? In erster Linie, muss mensch die Überreste des Eurozentrismus und Kolonialismus im eigenen Denken und Handeln beseitigen. Wollen wir InternationalistInnen sein, behaupten wir immer noch, dass der Drang zur Freiheit im Menschen unaustilgbar ist, geben wir automatisch zu, dass – unabhängig von Lebensumständen, vom Niveau wirtschaftlicher Entwicklung, Kultur und Religion – es keine „unterentwickelten“ und „für die Anarchie nicht reifen“ Völker gibt. Viel mehr, nach 11 Jahren des kaukasischen Krieges ist die Wiedergabe nazistischer Propaganda-Lügen von der „tschetschenischen Barbarei“ und dem „islamischen Fanatismus“, die von staatlichen Massenmedien verbreitet wird, durch einige „libertäre“ Theoretiker ist absolut unzulässig.
In der Politik gibt es keine einfachen Fragen. Das Separatismusproblem ist unter den kompliziertesten, hauptsächlich wegen der satanischen Schwierigkeit bei der praktischen Anwendung einer Synthese aus Anarchismus und Internationalismus bei der ungeheuren und immer weiter mit Hilfe der Regierung wachsenden Anzahl an internationalen Konflikten. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass für uns, russischen internationalistischen RevolutionärInnen, ein ausdrücklicher Wunsch selbst eines Teils des einen oder anderen Volkes, die Moskauer Herrschaft los zu werden, sollte ein Signal zum vertieften Erlernen der Kultur und der Sprache dieses Volkes sein, um die Vielfalt seiner Traditionen für die vollständige Befreiung aller Völker, auch des russischen, die unter das Joch des Kremls geraten sind, zu nutzen. Heroischer Kampf solch außergewöhnlicher Persönlichkeiten wie Schamil Bassajew oder Mowssar Barajew darf sich nicht vor die Volksbewegung stellen, damit Fehler oder Verbrechen einzelner Anführer keinen Schatten über das ganze Volk werfen können.
Eine bedingungslose Anerkennung durch AnarchistInnen des Rechts eines jeden Volkes, einer jeden Menschengruppe auf eigene Bräuche sollte uns als AnarchistInnen am Handeln nicht hindern. Bei all unseren Sympathien für KämpferInnen gegen den Imperialismus müssen jegliche Versuche, staatliche Strukturen zu schaffen und den Einflusses auf andere Territorien auszuweiten u.Ä., entsprechend anarchistisch beantwortet werden. Bei jeder passenden Gelegenheit, mittels unablässiger Arbeit in Landsmannschaften, mit ethnischen Minderheiten, in den Regionen, wo Minderheiten dominieren, werden wir unsere Position klarmachen, und diese Position besteht u.A. darin, dass der kaukasische Krieg nicht zum allgemeinen Aufstand gegen die Kreml-Diktatur wurde, u.A. wegen der Versuche der Regierung der Tschetschenischen Republik Itschkeria (TRI), einen eigenen Nationalstaat aufzubauen.
Die Ideologie des jungen russischen Staates wird unterschwellig durch jenes schreckliche Trauma bestimmt, das ihm bei der Geburt zugefügt wurde. Die peinliche Niederlage im Weltkrieg, der katastrophale Zerfall des Imperiums, die Erniedrigung der zweitstärksten Weltmacht zum Rohstoffliefernaten fürs Europa (nicht einmal für die USA!) – das alles bestimmt das Selbstbewusstsein der Herrschenden und treibt sie letzten Endes zu den „einfachsten“ Lösungen: der Tyrannei der Geheimdienste im Landesinneren und der aggressiven Rhetorik im post-sowjetischen Raum. Einst begleitete das Zarenreich seine Eroberungen mit Erklärungen über die Befreiung von „slawischen Brüdern“, Hilfe für Glaubensbrüder oder mit gar nichts. Danach rechtfertigte die Regierung der UdSSR ihre imperialistische Außenpolitik mit dem Kampf gegen den Imperialismus. Die Dialektik der jetzigen Regierung besteht darin, dass das erklärte „Schützen“ der Rechte von so genannten „Imperialisten“ (der russischen Minderheiten in baltischen Staaten, in der Ukraine, in Transnistrien), einigen Völkern im Südkaukasus oder Serben fürs Rauben oder Morden von kleineren und größeren Völkern in Russland selbst genutzt wird.
Wenn wir aber gegen den Imperialismus der eigenen Regierung kämpfen, dürfen wir dem russischen oder ossetischen Volk das Recht auf Wiedervereinigung versagen, den Wunsch der Abchasier irgnorieren, Befehlen aus Tiflis nicht zu gehorchen? Gleichzeitig, gänzlich auf der Seite der Unterdrückten, dürfen wir auch nur eine einzige Minute lang eine Erstarkung der Positionen der RF wo auch immer wünschen?
Mensch kann heute nicht sagen, wie genau die anarchistische Revolution vonstatten gehen wird: zerbrechen alle Staaten, was kaum wahrscheinlich ist, während einer vergleichsweise kurzer Periode zusammen oder, was noch weniger wahrscheinlich ist, wird es irgendeine Form feindlicher Koexistenz selbstverwalteter Gebiete und staatlicher Territorien sein? Jegliche Prognosen hier, besonders die globalen, laufen Gefahr, gleichzeitig dem Avantgardismus und der Manilowtschina zu verfallen. Jedoch ist jede konkrete direkte Aktion, jede Demonstration, jedes Flugblatt von allgemeiner Bedeutung. Wenn wir hier und jetzt den Staat zerstören, internationale revolutionäre und alterglobalistische Solidarität herstellen und stärken, arbeiten wir für die Befreiung der Völker der baltischen Staaten, der Ukraine, Ost-Timors…
Eine der bedeutendsten Veränderungen, die in den letzten 30-50 Jahren stattgefunden haben, war die Umkehrung von Migrationsströmen aus den Kolonien und abhängigen Ländern in die Metropolen. In Russland wird dieser Prozess erleichtert und gleichzeitig erschwert, weil die „Dekolonisierung“, wenn mensch darunter versteht, dass die unterjochten Völker ihre „eigenen“ Staaten bekommen, hier erst ansetzt. Erleichtert wird sie dadurch, dass für die BürgerInnen eines Einheitsstaates weniger polizeiliche Hemmnisse und Verbote, Visenregimes und Passkontrollen gelten. Erschwert wird sie durch die von den Regierungen geschürten Nationalismus und Xenophobie. Aber für uns AnarchistInnen ist hier wichtig, dass viele Völker, die in Russland lebten, keine „eigenen“ Staaten oder sie nur in Rudimetärform hatten. Das kann unsere Propaganda unter solchen Völkern effektiver machen. Aber – und damit muss man rechnen – staatenlose Nationen haben keine ideologische Immunität gegen die Droge der Herrschaft.
Wenn Neonazis über das Migrationsproblem reden, betonen sie vor allem eine multikulturelle Dissonanz, einen Unwillen der Angekommenen sich zu assimilieren, sinkende Löhne für die Einheimischen. Eine massenhafte Umsiedlung von Menschen mit einer anderen Mentalität, anderen Traditionen, Sprache und Religion hat freilich eine Reihe von Unannehmlichkeiten in verschiedenen Sphären und kann zu ethnischen Konflikten führen. Umso mehr, dass viele MigrantInnen russische Kultur eben nicht mit Leo Tolstoj, sondern viel mehr mit brutalen Säuberungen assoziieren. Aber AnarchistInnen werden allen, die noch Vernunft und menschliche Würde beibehalten haben, zu erklären wissen, dass die Massenmigration aus gestrigen nationalen Provinzen, rasches Anwachsen multinationaler Metropolen mit ihren spezifischen Problemen, das Sinken der Löhne als Folge der Einwanderung „billiger“ Arbeitskrft – alles nur Teile eines globalen Prozesses sind, der nur mit dem Fortleben imperialistischer Staaten zu tun hat. Direkte Unterstützung seitens des Kremls zentralasiatischer, südkaukasischer, belorussischer Despotien, unverblümtes Ausrauben ehemaliger „verbrüderter Völker“ mittels Öl- und Gaspreisen, Akzisen und Einfuhrzölle stellen nur die ersten Glieder einer Kette dar. Darauf folgen Völkermord und Ausrauben der eigenen Bevölkerung durch die moskauer Bürokratie, Koppelung politischer und wirtschaftlicher Aktivität an eine einzige Stadt, Aussterben ganzer Regionen, Aufstände in den Provinzen, ungeheuerlicher Machtzuwachs des Repressionsapparates, Arbeitskräftemangel in der heißlaufenden Wirtschaft, Besiedelung von frei gewordenen Territorien mit Flüchtlingen und MigrantInnen und schließlich die neue Sklaverei unserer Zeit – das Gastarbeitertum.
Es kann einem/r so vorkommen, dass das Geschwür des staatlichen Nationalismus nur für die Staaten der Dritten Welt typisch wäre. Nach dem Motto, hoher Lebensstandard und Gleichheit der Rechte und der Bürger vor dem Gesetz im Westen beugten nationalistische Konflikte vor. Die neulich ganz Europa erschütterten Aufstände in arabisch besiedelten Vororten stellten selbt die Existenz des breit beworbenen Schemas „ein Land, ein Volk, eine Sprache“ in Frage. Die ethnischen Konflikte in Australien, rassistische Unruhen in Birmingham und im vom Hurrikan verwüsteten New Orleans, die ins Leere laufenden Konflikte in Bosnien und Ulster – sind das nicht zu viele Ausnahmen? Die Regierungen der am weitesten entwickelten Demokratien können oder wollen nicht trotz vorhandener Ressourcen eine friedliche Koexistenz der Völker innerhalb der Staaten herstellen. Und beim ersten Blick auf ihre Außenpolitik wird jener Zynismus klar sichtbar, mit dem Ideale der Gleichheit und Völkerselbstbestimmung für den Raub an der ganzen Welt genutzt werden.
Einer der wichtigsten Punkte der etatistischen Propaganda heute ist die Behauptung, nur das Gesetz könne dem Neonazismus Anhalt gebieten und nur eine starke Regierung eines zentralistischen Staates wäre imstande, internationale Konflikte zu regulieren. Den AnarchistInnen ist diese widerliche Lüge nicht neu. Die Regierung kann mittels Schauprozesse gegen vereinzelte Rechtsradikalen ihre eigene faschistische Politik nicht verbergen. Friedenstruppen verheimlichen keine imperialistischen Absichten der „Peacemaker“ mehr und unterstützen die Konflikte zusätzlich, indem sie diese in einen chronischen Zustand versetzten. Immer wieder sehen wir, dass die Staatsmacht ethnische Fehden nicht entschärfen und nicht regulieren kann. Im „günstigsten“ Fall benutzt sie diese, im schlimmsten – erzeugt sie. Wenn der Staat die Rolle eines Vermittlers vereinnahmt, versucht er sich als die einzige Kraft darzustellen, die Gewalt stoppen und eine Möglichkeit für Verhandlungen schaffen kann. Aber in den Jahrtausenden seiner Existenz hat ausgerechnet der Staat alles dafür getan, dass neue Konflikte geschürt und alte aufrechterhalten werden, und hat überall, wo es nur ging, sie aus dem Stadium der Verhandlungen in das Kriegsstadium versetzt. Heute ist es nicht nur für AnarchistInnen, sondern auch für prinzipielle AntifaschistInnen und einfach für denkende Menschen offensichtlich, dass die Abschaffung des Neonazismus und Faschismus nur durch die völlige Abschaffung des Staates möglich wird.
Anarchismus und Antifaschismus können miteinander nur revolutionär verbunden werden, aber nicht allen werden Früchte dieser Vermählung schmecken. Anarchismus ist kein Allheilmittel gegen jedes gesellschaftliche Übel. Wir können nur rätseln, mit was für Herausforderungen die künftige Gesellschaft konfrontiert wird, was für Probleme sie wird lösen müssen. Wir wissen, dass es ethnische Fehden noch lange vor dem Staat gab. Es wird sie auch nach seiner Abschaffung geben. Als Erbe der Staatenwelt bekommen wir solche Weltgegenden, wo mensch sich ein friedliches Zusammenleben von JudInnen und AraberInnen, ArmenierInnen und AserbaidschanerInnen, TschetschenierInnen und RussInnen nicht ein mal denken kann. Konzentrationslager, Säuberungen und „Sicherheitszonen“ – das sind die Methoden einer endgültigen Lösung aller nationaler Fragen, über die die Staaten verfügen. Es gibt aber noch eine andere Methode. Sie besteht in der endgültigen Lösung der Herrschaftsfrage mittels internationaler Solidarität, Selbstverwaltung und Selbstorganisierung auf allen Ebenen. Staatlicher Völkermord oder Anarchie – die Frage stellt sich heute so. In der Vereinigung der antifaschistischen mit der anarchistischen Bewegung um die Prinzipien des Anarchismus herum liegt der Schlüssel zu unserem Sieg.
Aus dem Russischen.
Veröffentlicht in der Zeitschrift „Igel“, Dezember 2005