[Dies ist gewissermaßen eine Fortsetzung des Interviews mit Nikolaj „Scharkhan“ Tellalow von der ФАБ (Föderation der Anarchisten Bulgariens), das in der Nr. 11/2011 der GaiDao veröffentlicht wurde. Geführt und übersetzt von Ndejra.]
Also, es wäre interessant zu erfahren, was aus diesen Protesten heute geworden ist.
Eigentlich nichts. Die Menschen waren mit Strompreisen unzufrieden. Die Herrschenden und die Opposition sahen darin eine Möglichkeit, das Image, das ihnen anhaftet, loszuwerden, und lenkten die Proteste auf die Stromzulieferer. Dreist und gierig sind sie zwar auch, aber die wirkliche Schuld an der Lage hat die staatliche Regulierung, d.h. auch die Politik der Regierung samt der Gepflogenheiten des hiesigen Business. Dieser stammt fast vollständig aus den hiesigen Geheimdiensten. So, gingen die Leute auf die Straßen, um gegen die Strompreise zu protestieren, obwohl die Heizungskosten noch krasser sind, die Medizin ist auch im katastrophalen Zustand. Also öffneten die Drahtzieher nur ein Ventil.
Dennoch sind weitere Preiserhöhungen geplant, aber niemand regt sich mehr auf. Es tauchten Losungen gegen die Macht der Parteien auf, sofort haben verschiedene Aktivist*innen den Leuten die Idee von der „Bürger*innen-Kontrolle“ untergejubelt: eine neue „demokratische“ Camouflage-Schicht für die jetzige Oligarchie. Heraus kam der armselige Neustart der Prozesse von 1989/91, als die verschiedensten Parteien und die im Wesentlichen prinzipienlosen Koalitionen aus dem Boden schossen (Hauptsache „anti“ – gegen den „Kommunismus“ natürlich, wie der Staatskapitalismus der sowjetischer Art immer noch genannt wird).
Die patriotische Stimmung der Proteste überdeckte alles. Was in den Plan der Drahtzieher aus den Oligarchie-Clans nicht hineinpasste, wurde mit physischer Gewalt aus den Protestmärschen entfernt – mit Prügeleien in der Öffentlichkeit, Drohungen auf allen erdenklichen Kanälen und der „Blindheit“ der Massenmedien, was solche Fälle angeht. Ein paar mal wurde die Polizei provoziert, die Demonstrierenden anzugreifen. Das war ein makelloses Theater.
Fakt ist, dass die Probleme nach wie vor bestehen und immer schlimmer werden. Aber die Spannung hat abgenommen, was das eigentliche Ziel der Proteste war. Die politische und wirtschaftliche Elite wollte nur die Situation vor den Wahlen forcieren, die Menschen verwirren und einschüchtern, ihnen einbläuen, dass das „Chaos“ schlimm sei, „lasst uns also lieber wie gewohnt weiter machen, was Besseres gäb’s nicht“. Und die Borissows Partei erlebt wieder große Zustimmung, viele sind bereit, für Nationalisten zu stimmen.
Auch ethnische Konflikte passieren wieder öfter – hauptsächlich gegen die „Zigeuner*innen“. Unter dem Vorwand der Proteste hat sich die Repression verschärft.
Symptomatisch ist jedoch, dass der am meisten ausgebeutete Teil der Bevölkerung, der Großteil der Arbeiter*innen an diesem Spektakel nicht teilgenommen haben. Zudem sind sie jetzt für die Zukunft zusätzlich demotiviert – ist ja angeblich alles nutzlos.
Dauern die Aktivitäten in irgendwelcher Form noch an, oder war’s das, kurz Rabatz gemacht und nach Hause gegangen?
Die Aktivität ist bereits die reine medienwirksame Vorwahlen-Aktivität. Es wurde Rabatz gemacht, dann haben sich die angeheuerten Initiatoren auf Befehl entfernt, die Leute traten verlegen auf der Stelle und zogen dann tatsächlich nach Hause.
Und außer dass Borissow zurückgetreten ist, haben die Proteste gar nichts gebracht?
Dass er zurücktritt, hat eigentlich fast niemand verlangt. Er ist einfach weggegangen, um vor den Wahlen die Pose eines unterschätzten Wohltäter der Nation einzunehmen. Nicht ohne Resultate, übrigens. Die Menschen, wie ich bereits geschrieben habe, haben nichts davon. Nur ein wenig Dampf rausgelassen. Und es sind natürlich „neue Gesichter“ aufgetaucht, denen die Parteien Plätze in den Wahllisten angeboten haben.
Haben andere politische Akteure was davon: die Nationalisten, die Linke, die Gewerkschaften?
Die Nationalisten erleben große Erfolge: Ataka (rechts außen), die VMRO-BND (etwas gemäßigter). Alle Parteien nutzen nationalistische Rhetorik. Besonders ärgerlich ist es bei der Grünen Partei (der, übrigens, die Registrierung verweigert wurde) – ich persönlich habe allen Grund, sie als Faschos mit einigen Umweltschutz-Versprechen zu charakterisieren. Die Bulgarische Sozialistische Partei und ihre zahmen Linken schienen zuerst zu gewinnen, jetzt gehen sie wieder unter, laufen zu den Nationalisten über oder beugen sich unter die nationalistische Stimmung.
Mit Gewerkschaften ist es sehr interessant – sie haben sich während der Proteste gar nicht geäußert. Jetzt reden sie wieder so wichtigtuerisch und autoritär. Ihre gewöhnliche Beschäftigung ist die Drei-Seiten-Kommission (die Regierung, die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften). Bei den Wahlen schweigen sie sich immer aus.
In den Köpfen der Bevölkerung, besonders unter den jungen Leuten, herrscht das absolute Wirrwarr. Noch mehr, als vor den Protesten. Schockierend ist, dass die meisten Schlussfolgerungen absolut richtig sind. Dann kommt die unlogische Umkehr: die Probleme muss mensch so lösen, wie es bis jetzt auch war, mensch bräuchte nur die „richtigen“ Leute in die Regierung wählen, „richtige“ Gesetze verabschieden, „richtige“ Unternehmer belohnen. Wer auch immer im Fernsehen aufgetreten ist, mensch hatte den Eindruck, er hätte klinische Probleme mit der Logik. Hat er eben noch gesagt, dass der Markt versagt, dass das Parteiensystem und der Staat selbst mehr Probleme schaffen, als sie lösen – zieht er sofort den Schluss daraus, „dass sich die Zivilgesellschaft an der Macht beteiligen und sie korrigieren soll“. Das ist das einzige Resultat der Proteste: die Vergeistigung der Illusionen und der Demagogie.
Hat die FAB oder andere anarchistische Gruppen an den Protesten teilgenommen?
Wir haben versucht, mitzumischen. Uns hat mensch einfach von den Straßen weggefegt. Die Massenmedien haben das „nicht gemerkt“. Aber die Beteiligung war so oder so ein Fehler. Die Älteren in der FAB haben den falschen Charakter der Proteste erkannt, die mittlere Generation hat aber gerne geglaubt, dass die Lage für unsere Propaganda und die Verbreitung unserer Ideen förderlich war. War sie nicht. Die Sonderkommandos der Nationalisten hatten die Aufgabe, Leute wie uns rauszuschmeißen, der Rahmen für alle „Forderungen“ und „Losungen“ war bereits zuvor abgesteckt. Es waren auch nicht die richtigen Leute auf den Straßen.
In welchem Kontext fanden die Übergriffe auf die „Zigeuner*innen“ statt? Ist jemandem eingefallen, sie für die Krise verantwortlich zu machen?
Sie werden die ganze Zeit für alles Mögliche verantwortlich gemacht. Sie würden keine Steuer zahlen, aber die Sozialhilfe beziehen. Sie würden für den Strom nicht zahlen, die „anständigen“ Bürger*innen kämen für sie auf. (In meinen Artikeln und in Gesprächen antworte ich gewöhnlich darauf: „Hört auch ihr auf, dafür zu zahlen, verdammt noch mal!“) Sie würden klauen und nicht arbeiten usw. Gewöhnlicher Quatsch. Und so geht es seit 25 Jahren und mehr. Es ereigneten sich nur neulich 5 oder 6 Fälle, wo Securities auf Diebe geschossen haben (die Roma haben eine andere Version der Geschehnisse). Darauf folgten Unruhen und Drohungen von beiden Seiten.
Erzähl doch bitte noch etwas mehr über die Übergriffe auf Anarchist*innen.
Die Einzelheiten sind banal: wir sammelten uns erst im Park, ein Mob, drei mal so groß, kam heran und griff ohne Worte die Leute an. Wir haben uns mehr oder weniger umgruppiert und uns zurückgezogen, während wir uns mit Kartonschildern mit angebrachten Plakaten verteidigten. (Übrigens, auf den Plakaten stand kein einziges Wort über den Anarchismus, sondern die Losungen „Direkte Selbstverwaltung“ und „Der Staat ist selbst ein Monopol“. Und meine Frau hatte eine schwarze Fahne dabei). Auf diese Weise zogen wir uns etwa 50 Meter zurück und wurden dann in Ruhe gelassen. Darauf formierte sich aber ein noch größerer Mob der Nationalisten und wir mussten fliehen. Danach haben wir noch die Verletzten ins Krankenhaus gebracht, um die Wunden in ihren Gesichtern nähen zu lassen.
Es wäre auch schön, von internen Diskussionen der FAB zu erfahren. Du schreibst, dass die Älteren das ganze nicht gemocht haben, der mittleren Generation schien die Lage passend. Also was waren die Argumente, die Ideen?
Die Jüngeren hatten wieder den „Einfall“, sich mit den Linken zu verbünden (faktisch sind das Trotzkisten und Stalinisten). Ich bestand auf eigene Veranstaltungen. Die Lage schien günstig, um die Menschen zu erreichen. Wir haben Flugblätter, Literatur und Broschüren vorbereitet.
Das war aber mein Fehler – ich beobachte und rede viel mit den Arbeiter*innen, die mit den Zügen zur Arbeit nach Sofija pendeln, während in Sofija selbst die Protestierenden mit dem Proletariat kaum oder gar nichts zu tun hatten: Kleinunternehmer*innen, Verkäufer*innen, Angestellte aus dem Dienstleistungssektor (solche, die selbst mit Klienten zu tun haben und zusätzlich zum Lohn noch das Trinkgeld bekommen), niedere Beamte, relativ gut bezahltes Personal aus Privatunternehmen, Rentner*innen, Schüler*innen, irgendwo aufgesammelte Fußball-Fans, wenn mensch das so nennen darf, typische Lumpenproletarier mit nationalistischen Ansichten. Wie sich die Letzteren ihre Brötchen verdienen, weiß ich nicht, aber es ist sicher nicht die Lohnarbeit.
Die Älteren sagten noch, dass die Situation nicht im Entferntesten eine vorrevolutionäre ist. Wir wollten es nicht glauben.
Habt ihr irgendwelche Lehren daraus gezogen, oder wollt ihr diese Sache einfach aussitzen?
Ein Teil schon, ein anderer nicht. Der eine Teil fühlte sich in bereits vergangenen Lehren oder Bewertungen bestätigt, d.h. unter Anderem in der Notwendigkeit, zu den Organisationsprinzipien der FAKB (Föderation der Anarcho-Kommunist*innen Bulgariens, 1919 – 1948 – Anm.d.Ü.) zurückzukehren. Die Jüngeren und viele von den „Mittleren“ sind nicht vom bevorstehenden Formalismus begeistert. Sie stehen eher auf „affinities“ und Subkulturen.
Ehrlich gesagt, unsere Älteren sind ein trauriger Anblick, obwohl sie ihre Enttäuschung verbergen. Aber diese Enttäuschung ist sehr berechtigt. Väterchen Sascho (Aleksandr Nakow) kann sich noch an die Zeit erinnern, als in seinem Dorf eine (anarchistische) Gruppe aus 20 Menschen bestand, es war Ende der 1930er Jahre, dann wurde er wegen einer angeblichen Verschwörung für die anarchistische Meuterei beim Militär verhaftet. Georgy Konstantinow mitten in der Repression fand Mitkonspiratoren, um eine Woche vor dem unerwarteten Tod Stalins sein Denkmal in die Luft zu sprengen.
Die FAB steht gerade an der Überlebensgrenze. Ich bin der Meinung, wir müssten einfach gemäß den Statuten arbeiten, schlaue Menschen individuell anwerben, uns theoretisch bilden. Und in dieser Phase – nichts weiter. Sind wir erst mindestens 500 in einer klaren Struktur, dann erst können wir an anderen Projekten planvoll feilen.
(erschienen in der DaiDao Nr. 30, Juni 2013)
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