Alexej Zvetkow
„Stand up as you would for the Marseillaise or God Save The King.
Stand up, as if the Flag were before you. Or as if you were in the presence
of Dada, which signifies Life, and which accuses you of loving
everything out of snobbery if only it is expensive enough.“
Francis Picabia, „Manifeste cannibale“ (1920)
In Gesprächen über Emanzipation gilt die wichtigste Frage dem Subjekt. Wer emanzipiert sicheigentlich, und wovon? Es muss eine genaue Adresse genannt werden. Selbst wenn die Emanzipation, d.h. das Aufheben der Entfremdung in ihren ökonomischen, herrschaftlichen und symbolischen Formen möglich ist, wer ist zu ihr fähig?
Das zu Ende gegangene Jahrhundert kennt genügend Beispiele, damit mensch behaupten kann: die Befreiung gigantischer Kollektive, in denen Selbstverwaltung aufgrund ihrer Größe nicht möglich ist, wurde zur größeren Sklaverei für Mitmenschen und zur Niederlage für diese neuen holprigen Systeme selbst, die nicht in die postindustrielle Landschaft des Lebens passen. Die sich befreiende Nation, die Klasse, der zivilisatorische Typ, der „kulturelle Raum“ – das war alles zu viel, der Körperumfang solcher Modelle widersetzt sich der Levitation, die die Freiheit bestätigt. Es kam entweder zu einer roten Diktatur oder zu einem braunen Reich.
Die umgekehrte Extreme, die aus der oben genannten Beobachtung entsteht, ist der klinische Individualismus, der übertriebene Kult allgemeiner „Besonderheit“, der „Einzigartigkeit“ und das „Fehlen allgemeiner Rezepte“ – eine Wonne für Infantile aller Zeiten und Epochen. Ein Mensch, eine abgesonderte Persönlichkeit, eine tätige Seele, ein experimentierendes Bewusstsein – das ist zu wenig für das Befreiungsprojekt.
Die Hoffnung, dass die Entfremdung durch gigantische soziale Mechanismen überwunden wird, brachte im vergangenen Jahrhundert Totalitarismus in all seinen uns bekannten Varianten hervor. Das Vertrauen auf den „einsamen rebellierenden Helden“, der nach der unaussprechlichen Erfahrung einer wahren Existenz sucht, führte viel zu viele wenn nicht zum Selbstmord, dann zum Psychiater. Der totalitäre Optimismus, der die Welt erschreckend einfach und grausam macht, und der liberale Pessimismus, der durch die Unmöglichkeit, alleine auf die Qualität des Daseins einzuwirken, entsteht – das sind Szilla und Charybdis eines jeden radikalen Projektes. (1)
Einen Ausweg aus dieser „Bifurkation“ suchten und suchen immer noch viele in kleinen Kollektiven unmittelbar mit einander bekannter Menschen, die durch gemeinsame, vom Mainstream abweichende Geschichte, Erlebnisse, Entdeckungen, Deutungen und Symbole geeint sind. Das sind „neue Clans“, von denen Timothy Leary schrieb, „Partisanengruppen“, auf denen Marigella bestand, „autonome Zonen“, deren Bewegungen auf der Karte der Sufi und Anarchist Hakim Bey erforschte, die sich selbst bewusst gewordene „UFO-Besatzungen“, wenn mensch Adam Parfey Glauben schenken will. (2)
Wie kann mensch sich hier nicht erinnern, dass bei Biologen als Evolutionseinheit weder das Individuum noch die Art, sondern die Population gelten? Ja, die zur Verstärkung der vitalen Kraft nötige Mutation findet in einem Wesen statt, aber sie bleibt unverständliche Perversion, irrationaler Überschwang der Natur, wenn sie nicht von der Population, von der gemeinsam handelnden Gruppe angeeignet, wenn sie nicht vom von der Evolution auserwählten kollektiven Bewusstsein begriffen wird.
Die Idee eines solchen „frommen Trupps“ oder eines „befreiten Flecks“ drückt sich in Versuchen aus, „kultige“, d.h. nicht einfach populäre, sondern richtungsweisende Rockbands, Kommunen, künstlerische Gemeinschaften, informelle Vereinigungen mit unterschiedlichen Aggressivitätsgraden und sogar neuere Sekten zu gründen. Das heißt nicht, dass die genannten Projekte vom Totalitarismus oder Individualismus sicher sind, noch weniger heißt es, dass alle kleineren Kollektive, die für sich den kultigen Status der TrägerInnen und VermittlerInnen eines „konkurrierenden Bewusstseins“ beansprucht haben, besaßen tatsächlich etwas außer bloßen Ambitionen. Dafür bedeutet es, dass einen anderen Weg zur Superpräsenz, zu einem nicht-entfremdeten Dasein niemand kennt. Dem Rest bleibt nur übrig, entweder wortlos die im Himmel verschwindende Führerstatuen im Chor anzubeten, oder vereinsamt an den American Dream zu glauben und ihn anhand von Werbetafeln in den Straßen zu suchen.
Selbstverständlich ist die Antwort auf das System von der Seite solcher „anders existierenden“ Linsen, „neuer Kollektivitäten“, der Partisanengruppen, „asymmetrisch“.
Eine symmetrische Antwort auf das disziplinierende Sanatorium des Spätkapitalismus (oder des späten Sozialismus, sie unterscheiden sich kaum) ist einfach wegen ungleicher Ressourcen nicht möglich. Kein kleines Kollektiv, selbst eine Verschwörung, die aus mehreren solchen Kollektiven besteht, – versteht sich – kann es mit dem System im Bereich der Informationsverbreitung, der Massenmobilisierung oder vielen anderen Dingen aufnehmen. Vor allem, wären diese „Konkurrenzversuche“ für die Einheit und Adäquatheit der Partisanengemeinschaft selbst gefährlich.
Die Fähigkeit zu einer asymmetrischen, aber wirksamen Antwort ist die Hauptressource jeglicher Gegenkultur.
Die Superpräsenz, falls sie nur manchmal in der Erfahrung der Kollektivmitglieder möglich ist, führt zwangsläufig zur schöpferischen Überproduktion unter ihnen, was vom Rest der Gesellschaft, die am Experiment nicht teilnimmt, „normal sozialisiert“, d.h. schöpferisch arm ist, als absurde Utopie wahrgenommen wird. Gemeint ist das hohe Absurde, im Konkreten: bewusst gewählte Strategie von Gedankenschlüssen und besondere, provozierende Taktik gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Das hohe Absurde war die pathetische Sprache von dadaistischer Poesie und Theater, surrealistischer Büros, russischer Oberiuts, von Beatniks-Gemeinden, psychodelischer RevolutionärInnen, Weathermen und Situationisten, usw usf.
Dieses hohe Absurde selbst ist die asymmetrische Antwort auf das System im Unterschied vom niederen unbewussten Absurden, das „zufällig rausspringt“ wider deines von System anerzogenen Willen.
Der hohe Absurd entsteht dort, wo die Sprache alternativer Gemeinschaften, die immer „erschaffen“ wird, um zur Superpräsenz zu führen, mit der Systemsprache kollidiert, die immer „existiert“, und sie existiert nicht einfach so, sondern, um die „Sozialisation“ zu ermöglichen, d.h. um ewig hierarchische Beziehungen der Unterordnung und Abhängigkeit der Teile der Mehrheitsgesellschaft von anderen Teilen herzustellen und zu legitimieren. Im Fundament der Partisanensprache kleinerer Gemeinschaften liegt immer die euphorische Hymne der Superpräsenz und der Wunsch, sie den Wenigen mitzuteilen, die dich kennen, die mit dir zu einer Erfahrung fähig sind. Die Systemsprache gründet sich auf einen gesellschaftlichen Nichtangriffspakt, der von jedem Mitglied der Mehrheitsgesellschaft „unterschrieben“ werden muss, der diese Sprache spricht.
Natürlich, um genau zu sein, absurd, d.h. irrational, aufgezwungen und gefährlich für das Bewusstsein ist gerade die große, „normale“ Sprache, und das konkurrierende Projekt ist ein Versuch der Selbstheilung einiger Kollektive, die Böses geahnt haben.
Das hohe Absurde ist das bewusste und von Anfang an programmierte Nichtentsprechen von Form und Inhalt, von benutzten Mittel und proklamierten Zielen. Weil die „Form“, die von Institutionen angeboten und von Autoritäten der Mehrheitsgesellschaft geheiligt wird, in Wahrheit dem von Partisanen aufgedeckten Inhalt nicht entspricht; die in der großen Gesellschaft akzeptierten „Mittel“ können wohin auch immer führen, aber nicht zu von von Partisanen gewählten Zielen.
Kulturelle wie soziale Extremisten werden von Orakeln der Mehrheitsgesellschaft kritisiert; ihnen werden irrationale Argumentation, paranoide Theorien und Projekte vorgeworfen. Vergnüglich wird nach grundlegenden Fehlern in der Ursache-Folge-Logik, irgendwelchen fundamentalen, primären Fehler, Laugenbrezeln in der eisernen Kette aller nachfolgenden Überlegungen und Bilder gesucht.
All diese Propaganda vermisst ihr Ziel, weil sie eines nicht beachtet: die oben genannten Besonderheiten bilden keine Schwäche, sondern die Stärke der alternativen Gesellschaften. Genau diese „Sachwachsinnigkeit“ lockt Menschen an, indem sie in ihrer Psyche eine Resonanz von solcher Tiefe erzeugt, die keine mächtige kulturelle Botschaft der Mehrheitsgesellschaft erreicht. Menschen kommen in die alternativen Kollektive erst nachdem sie mehr oder weniger ihre „Fehler“ als den wichtigsten ontologischen Schatz begriffen haben, der sie von dem Elend des Alltags abhebt. Sie begreifen ihre Wahl und die Motivation ihrer Handlungen als nicht legitime, hoch-absurde; und schöpfen daraus ihre Kraft, nutzen die Fehlerhaftigkeit als den Koan ihrer Einweihung, den mensch nicht rationalisieren kann.
Also wird der Mensch gehoben, wird vertikal durch seine eigene Willkür, seinen Willen, der einer nicht beweisbaren Doktrin angehört. Nur in dieser Geste wird der Mensch dem Schöpfer der Welt gleich. Der begriffene, aber nicht berichtigte Fehler führt ihn seines individuellen Weges zur Überwindung festgelegter Grenzen seines Wesens. Die Unfehlbarkeit dagegen tendiert zur Verwurzelung, zum Einsperren im Gefängnis eigener Grenzen und zum Versickern des inneren Brunnens. Das Entsprechen von Form und Inhalt, von Mittel und Ziel bringt den Menschen in die horizontale eindimensionale Stellung. So ein Mensch kann in jedem Sinn des Wortes durch genau so einen ersetzt werden; ihm fehlt der Qualitätssiegel, der Code der Artenmutation. Wir haben das „ allzu Menschliche“ vor uns, vor dem uns Nietzsche warnte.
Zur Wahrheit kann jeder Narr gehen, denn der Weg hin ist bekannt und dafür wird überall geworben. Sie wird auch ohne dich gefunden werden. Aber deine Fehler für dich machen kann niemand sonst. Und seitdem du in diesem persönlichen Fehler die Brandmarke des Vertrauens erkennst, entsteht in uns der Wille zum hohen Absurd, jener Wille, der die utopischsten Projekte real macht und ihnen Qualität verleiht. Mit dem Verstehen diese Missverständnisses als der Quelle eigener Kreativität fängt die Willkür an, die den Menschen gerade stellt, so entsteht seine metaphysische Wirbelsäule. Alleine in der Schöpfungsgeste – gegen alle guten Gründe – wird der Mensch dem Schöpfer der Welt gleich, in allen übrigen Positionen bleibt er Kreatur. Gott hatte keine Gründe für die Erschaffung der Welt.
Die Vermittler des hohen Absurden verstehen ihn, unter anderem, als eine sprachlichen Sieg im Kampf gegen das System. Die Formel der revolutionären Situation ist hier die folgende: Das System versteht euch nicht und will euch, ihr aber versteht es hervorragend und wollt es nicht. Das System dringt mit seinen Tentakeln in euer Territorium ein, um euch egal wie, berechenbarer und verständlicher zu machen, d.h. um euch zu einem Teil vom System zu machen. Es reicht, einen Menschen wenigstens zum peripheren Teil des Systems zu machen, damit er wie – von Gravitation – vom Begehren besessen wird und seine ganzen vitalen Kräfte dafür verwendet, um sich den Zentren des Systems zu nähern.
Besteht euer Kollektiv aus Menschen, die – wenn mensch sie natürlich nicht von einander isoliert – nie mehr verständlich und erklärbar werden? Sind die unzertrennlichen Beziehungen innerhalb des Kollektivs – auch wenn ihr räumlich getrennt seid – garantiert durch die gemeinsame Erfahrung der Superpräsenz?
Wenn alles so ist, ist der Konflikt zwischen dem System und eurer Gemeinschaft unvermeidlich.
Wozu überhaupt das System herausfordern? Könnte mensch sich irgendwie maximal verselbstständigen, entfernen und nicht „teilnehmen“?
Dafür, dass das Gegenteil vom System die Revolte ist und „sich maximal entfernen“, im eigentlichen räumlichen Sinne, heißt, die Partei der Revolte zu ergreifen.
Das System ist die Verkörperung der ewigen Quantität, der Gravitation, der Anhäufung, der unendlichen Flachheit.
In der Revolte aber kommt die ewige Qualität zum Vorschein, die Levitation, die Verschwendung, das ewige Vertikale.
Also ist ist die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der Superpräsenz und den Agenten des Systems unvermeidlich. Woher diese „Dramatisierung“? Die Superpräsenz ist ohne die Praxis der Revolte nicht erreichbar, sie kann nicht abstrakt sein. Genauso wenig duldet das System solch gefährliche Willkür auf seinem Territorium. Das hohe Absurde der Partisanensprache, sozial ausgelegt, ist nichts anderes als der revolutionäre Utopismus, der jede radikale Praxis bewegt.
Ein politischer, d.h. aktueller, sich am meisten veränderbarer Bestandteil dieses Utopismus ist rein dekorativ, genau deswegen gründeten italienische Futuristen die ersten „Fascis“, französische Surrealisten traten der Kommunistischen Partei bei, Situationisten hoben das Image der „Neuen Linken“ aus der Taufe und unsere eigenen Letow (3), Limonow (3), Mogutin (4), Kurjochin (5) und viele andere bis zu „Kalinow Most“ und „Zapreschjonyje Barabanschtschiki“ (6) dachten sich ein universelles für alle Partisanengemeinschaften politisches Kleid aus – den „National-Bolschewismus“ (7), den vermeintlichen Ausdruck der aktuellen sozialen Incorrectness in einer Verpackung.
Das heutige Russland ist übrigens keine Ausnahme in diesem Sinne. In der unabhängigen Ukraine gilt es für eine Band, deren Ansprüche etwas weiter als Show-Business reichen, als guter Ton, auf Soli-Konzerten für UNA-UNSO (ukrainischer Analog des National-Bolschewistischen Partei) und ihren Ideologen Dmitry Kortschinski zu spielen, der seine Strategie als den „militanten ukrainischen Zen“ bezeichnet. Dieser mischt Erfahrungen und Zitate von Bakunin, Brigate Rosse, lateinamerikanischen Guerilleros und die reaktionärsten Rassentheorien und historischen Rekonstruktionen, die der Feder eines Miguel Serrano wert wären, in einem flammenheißen Cocktail zusammen. Die kommende Revolution bezeichnet Kortchinski in seinem „Krieg in der Menge“ (8) als die „Revolution der spilnot“, d.h. als Revolte von besonderen Gemeinschaften, Vereinigungen, Trupps gegen diese „Menge“ und das System, das die Menge herstellt.
Das System wird von den Partisanen als der ewige Konsument und Bewahrer der kollektiven Energie angesehen, und die Revolte als eine sich selbst wiederherstellende Energiequelle, die wie eine Sonnengottheit nicht versiegelt, als das wirkende Nichts, aus dem alles Etwas entspringt. Die Menschen des Systems werden die Revolte immer mit Grauen und Neid betrachten. Die Menschen der Revolte werden dem System immer mit Abscheu und Unversöhnlichkeit begegnen.
Vom Standpunkt der Partisanen aus gesehen, ist hier die Rede fast von einem Rassenunterschied zwischen den Menschen, es kommt nur darauf an, wo ihr mitmacht – bei der Revolte oder im System? Der Anarchismus und die freie Wahl in so einem „Rassismus“ bestehen aber darin, dass ihr selbst eure „Rasse“, d.h. eine Seite im Konflikt aussucht.
Vor kurzem sagte Präsident Putin (die Aufsatzsammlung „Die Superpräsenz“ ist 2003 erschienen – A.d.Ü) vor dem Hintergrund des zweiköpfigen Vogels: „Wir werden niemandem erlauben, die Anarchie zu kultivieren und Pseudo-Staaten zu gründen“. Anarchie zu kultivieren und Pseudo-Staaten zu gründen – das ist gerade die Lebensweise der Partisanen, ihre Form der Präsenz in der „großen Gesellschaft“.
In den letzten 300 Jahren erschien die Revolte in der Form von sozialen Revolutionen. Der Sprachschatz der sozialen Erhebungen ist sehr metaphorisch, letzten Endes wurde immer klar, dass sie unter der „verdammten Klasse“ das System und unter der „Missionaren-Klasse“ und dem „unterdrückten Volk“ sich selbst verstanden haben. Diese Sprache lässt sich leicht und einfach entschlüsseln, wenn mensch sie mit der konkreten historischen Praxis vergleicht. Im Endeffekt, die Revolte war immer als etwas anderes getarnt, als eine neue soziale Doktrin oder eine neue Religion. Tarnung ist ein für die Existenz der Partisanengemeinschaften notwendiges Prinzip, und die konspirative Nutzung von alten Begriffen und Sujets für absolut neue „inadäquate“ Zwecke – ist ein Charakterzug des hohen Absurden.
Wie in der Wissenschaft, ereignen sich im gesellschaftlichen Leben Revolutionen nur wenn sich eine ausreichende Masse von ungelösten, immer wieder verschobenen und sich vertiefenden Widersprüchen, eine genügende Anzahl von prinzipiellen Fragen anhäuft, die im Rahmen des existierenden „vorrevolutionären“ Modells nicht gelöst werden können. Alsbald diese Anhäufung kritisch wird und dieses Faktum von genügender Anzahl systemkritischer Menschen wahrgenommen wird, entsteht das revolutionäre Subjekt – eine gefährliche Anzahl der mit System konkurrierenden kleinen Kollektiven, die als Folge zum Hauptakteur der revolutionären Handlung werden.
Was Begriffe wie „kritische Anhäufung“ und „genügende Anzahl“ im rein quantitativen Sinne bedeuten, entscheidet jedeR für sich, soziologische Proportionen sind ein ganz anderes Thema. Auf jeden Fall, bewusst oder unbewusst, ist jedeR von uns in dieser Gleichung berücksichtigt.
Durch die Revolution wird die Superpräsenz als eine Eigenschaft der Minderheiten für eine Weile auch für den Rest der Gesellschaft offensichtlich. Von diesem Schein zehren alle nachkommenden Revolutionsmythen.
Alle wissen, dass es lächerlich ist, für eine Idee zu sterben oder wenigstens etwas für sie zu riskieren. Besonders gut wissen das die „Extremisten“ selbst, d.h. genau diejenigen, die „riskieren“ und sogar manchmal dafür sterben. Der so genannte Tod ist für die Meisten ein Synonym für Unumkehrbarkeit. Die Wahl besteht aber darin, ob mensch auf den Tod hinter der Frontlinie wartet, indem mensch sanft mit dem Strom des hypnotisierenden alltäglichen „Lebens“ auf ihn zu treibt, oder ihm im Moment eigenen kämpferischen Triumphs begegnet und damit eigenes vorangegangenes Leben aus den Anführungszeichen befreit. Das Kitzeln, von eben diesen Einführungszeichen verursacht, ist der eigentliche Grund für das Lachen der Partisanen.
Als verführerische Eigenschaft, als das Passwort des hohen Absurden ist das Bewusstsein der unumgänglichen Komik eines jeden „Fanatismus“, der sich – kann mensch nichts machen – in meinem Kopf mit „Fantasie“ und „Fiktion“ vereinigt. Die überbetonte Komik der von den Radikalen ausgesuchten ziemlich unkomfortablen Lebensweise – das ist der wahre Siegel der Superpräsenz, die im Verhalten der Partisanen sichtbar wird. „Das eigene Komische“ ist die Medizin gegen die grassierende Krankheit der modernen Menschen, die Nietzsche „Ressentiment“ nannte. Das Ressentiment ist der am meisten verbreitete Geisteszustand der Mitglieder der großen Gesellschaft, der in sich Zusammenhänge von Schuld, Gekränktsein und Neid vereinigt. Eigentlich, unterteilen sich die Menschen der großen Gesellschaft in „Typen“ in Hinsicht darauf, welches Element des Ressentiments in ihrem Bewusstsein die beiden anderen dominiert.
Der Partisan oder die Partisanin, der oder die die Komik der eigenen Figur wahrnimmt, ist vor einem Gefühl der Schuld, des Gekränktseins und – umso mehr – des Neides bewahrt. Diese rettende und freiwillige Komik ist die letzte und die einzig mögliche Weise, in der der Mensch das Vertikale in sich findet. Der Partisan oder die Partisanin lacht über den eigenen Fehler und macht ihn lachend noch tiefer, und hebt durch dieses Lachen den Grad des eigenen Winkels bezüglich der gesellschaftlichen Flachheit.
Das schreckliche Lachen der Partisanen – die Antigravitation.
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Fußnoten:
1) Dieses Problem hat eine Analogie in der Religion. Die Befreiungsprojekte großer Systeme ähneln den Institutionen großer monoteistischer Religionen (Judaismus, Christentum, Islam), die den Verzicht auf persönliche Rechte fordern. Hingegen gleichen Pläne des individuellen Erreichens der Superpräsenz auf dem Wege rein persönlicher geistiger Anstrengungen dem Atheismus, dem Visionärentum, der Psychodelik und dem weltlichen Humanismus.
Diese falsche Alternative „Monotheismus / Atheismus“ löst sich mit dem Erscheinen eines dritten Weges – dem des „Stereotheismus“.
Im Stereotheismus erschafft nicht nur Gott den Menschen, sondern auch der Mensch erschafft Gott. Wobei die Verbindung zwischen diesen zwei Vorgängen ist nicht eine ursächliche, sondern sie verlaufen parallel. Schließlich kann die Existenz des Weltschöpfers nur im kollektiven Bewusstsein vorgefunden werden. Der Mensch unterscheidet sich nicht von Gott, wenn er ihn nach seinem Vorbild erschafft, d.h. er rundet den Schöpfungsakt ab, nimmt ihm solche Begriffe wie Subjekt und Objekt der Erfahrung, der Anfang und das Ende, Ursache und Wirkung. Unter den trans-persönlichen Praktiken sind dem Stereotheismus solche für die institutionalisierte Geistlichkeit „verdächtige“ Praktiken nah wie z.B. die Lehre des dissidenten Sufi Al-Halladsch, der von islamischen Geistlichen hingerichtet wurde, oder die visionären Thesen Meister Eckhardts, der posthum von der katholischen Kirche zum Ketzer erklärt wurde.
Was hat das mit kleineren Kollektiven zu tun? Das, dass der Stereotheismus – die Widerspiegelung der Gottheit im Ich durch das Begreifen der Gottheit als der Widerspiegelung des Ich – nur in kleineren Gruppen möglich ist, zusammen mit anderen TeilnehmerInnen deiner lebendigen Erfahrung. In einer großen institutionalisierten Kirche, was auch immer da auf der Kuppel steht, wird diese Erfahrung nicht durch die Geistlichkeit bestätigt und ihr werdet zu Ketzern erklärt. Auf rein individuelle Weise „a la Aldous Huxley“ wird auch niemand eure Erfahrung bestätigen und festhalten und ihr werdet sie nicht vom gewöhnlichen Größenwahnsinn unterscheiden können. – A.Z.
2) Hollywood haut erfolgreich für sich Ende der 90er „Generationen“-Filme raus, indem es einige Sujets der Gegenkultur vereinfacht und verwässert. Es konnte 2000 mindestens zwei Streifen über „Partisanen-Trupps“ in den Metropolen vorzeigen. Das ist zum einen „Matrix“, wo eine Meute von unversöhnlichen TrägerInnen der Superpräsenz gegen die Weltillusion ankämpft, die der künftigen Menschheit in Form unserer Gegenwart aufgezwungen wurde, und zum zweiten – „Fight Club“, wo sich diejenigen in Männerbünden zusammenschließen, die das reine Vertikal-Sein praktizieren, die existenzielle Revolte, die jeglicher klaren politischen oder religiösen Begründung entbehrt. Wir sehen eine antisoziale Gemeinschaft in schematisch-reiner Form, die von allem oberflächlichen und allzu aktuellem durch die magische Kraft des Kino bereinigt wurde. – A.Z.
3) Letow, Jegor (1964-2008) – Dichter, Rock-Musiker, Frontman der kultigen Band Grazhdanskaja Oborona. Ging mit dem Zusammenbrauch der Sowjetunion vom anarchistischen Nihilismus zum National-Patriotismus über und war eine Weile lang Mitglied der NBP. – A.d.Ü.
4) Limonow, Eduard – zeitgenössischer russischer Schriftsteller und Politiker, ehemaliger Vorsitzender der National-Bolschewistischer Partei. Eine der bedeutendsten Figuren in der heutigen liberal-demokratischen Oppositionsbewegung. – A.d.Ü.
5) Mogutin, Slawa – russischer Schriftsteller, Journalist und Fotograf, zeitweise Mitstreiter Limonows. Aufgrund drohender Strafverfolgung infolge seiner investigativen und provokanten, zum Teil aber auch rassistischen Arbeiten sah Mogutin sich 1995 gezwungen, Russland zu verlassen. Lebt derzeit in den USA. – A.d.Ü.
6) Kalinow Most und Zapretschjonyje Barabanschtschiki – KM: 1986 gegründete russische Folk-Rockband, die sich stark auf slawische Folklore und Mythologie, letzte Zeit aber auch verstärkt auf den christlich-orthodoxen Glauben und Weiße Garden bezieht. ZB: 1999 gegründete „Alternativ-Rock“-Band, experimentiert mit Ska, Reggae, Latino, bewegte sich typischerweise vom linksradikalen Protest zum „aufgeklärten Konservatismus“. – A.d.Ü.
7) National-Bolschewistische Partei – 1993 als „Querfront“-Partei gegründete politische Organisation, allerdings ohne offiziellen Parteistatus. 2007 wegen Extremismus verboten. Vertrat etatistische, patriotische und offen faschistische Positionen, verband sie mit linker Ästhetik. – A.d.Ü.
8) Die NBP, die UNA-UNSO oder das neuere Kortschinskis Projekt „Das Schild der Vaterlands“ sind nur am sichtbarsten, sie hatten mehr Glück mit den Massmedia. Aber derselbe „militante Zen“ und dasselbe ununterscheidbare Übereinstimmen von sozialer Utopie und der Gegenkultur finden sich auch im Milieu radikaler Öko-AnarchistInnen und in Scharen kahlköpfiger Skinheads und selbst in der heutigen zur Hälfte aus Punker bestehenden „bolschewistischen Komsomol“, die Zarendenkmäler in die Luft sprengt und in Hardcore die unsterblichen Chuch´e-Ideen vertont. Kein „Fachmann“ wird euch sagen können, ob hier die extremistischen Gruppen dermaßen in den modernen Underground eingetaucht sind oder der Underground so radikal geworden ist. – A.Z.
Übersetzung aus dem Russischen.
Aus „Die Superpräsenz. Kleiner Kurs des Antiglobalismus“, Ultra-Kultura, Moskau, 2003