“Die zentralen oder reformistischen Gewerkschaften sind ideallos. Sie kennen nur die jetzige Gesellschaft und streben in ihr einen Ausgleich zwischen den Gesellschaftsklassen und –gruppen an. Sie glauben einen solchen Ausgleich ermöglichen zu können durch Änderungen im geltenden Recht. Aus diesem Grunde fordern sie einen ständigen Ausbau der Sozialgesetzgebung. Sozialgesetzgebung ist für sie der Inbegriff alles Erstrebenswerten, weil sie eine Aussöhnung der sich feindlich gegenüberstehenden Klassen und Gesellschaftsgruppen wünschen. Sie sehen in der Sozialgesetzgebung auch einen Faktor von hohem moralischen Wert, dem ihrer Meinung nach die Aufgabe zufällt, bestehende Schranken zwischen Klassen und Gruppen zu Fall zu bringen und allen Gesellschaftsmitgliedern die Möglichkeit zu verschaffen, Dienst an der „Wirtschaft“ und Dienst am „Staate“ zu verrichten. Der Glaube hat sich in diesen Organisationen breitgemacht, dass Dienst am Staate und Dienst an der Wirtschaft unerlässliche Voraussetzungen für die Veränderung der gesellschaftlichen Stellung des Arbeiters sind. …
Der Tarifvertrag ist zu einer Einrichtung geworden, die der Wirtschaft den Arbeitsfrieden sichert und Gleichgewichtsstörungen auf ein Minimum reduziert. Die reformistischen Gewerkschaften aber zerfließen fast, in Ehrfurcht vor der Heiligkeit und Unantastbarkeit eines Tarifvertrags, der sich streng genommen nichts anderes darstellt als einen Vertrag, durch den der betroffene Arbeiter seine Ausbeutung für einen Rechtszustand erklärt und freiwillig Verzicht leistet auf den Kampf um die Änderung der ökonomischen Ordnung. Die Tarifvertragspolitik, die durch die Verordnung über Tarifverträge zu einem hervorragenden Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaftsführung geworden ist, beschränkt durch das geltende Tarifrecht die gewerkschaftliche Aktionsfreiheit so stark, dass kaum noch von einem Klassenkampf gesprochen werden kann. Voraussetzung jeder auf Klassenkampf eingestellten Handlung ist, dass sie unter Außerauchtlassung der Interessen des Gegners rücksichtslos die eigenen wahrnimmt und alles tut, um den bestehenden Zustand der Dinge zu beseitigen, in unserem Falle, die gesellschaftliche Stellung des Arbeiters zu seinem Vorteil und zugunsten des endlichen Sieges der sozialistischen Weltanschauung zu verändern. Das Tarifrecht hingegen hebt den Klassenkampf auf und setzt an seine Stelle Klassenharmonie. Die Klassenharmonie als Ausfluss der Tarifvertragspolitik macht aber die Gewerkschaft als Interessen- und Kampforganisation, als ökonomischen Ausdruck einer bestimmten Gesellschaftsklasse überflüssig”.