von Ndejra
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Zeigt uns übrigens nicht die Geschichte, dass die Priester
aller Religionen, ausgenommen die der verfolgten Kulte,
immer die Verbündeten der Tyrannei waren? Und gewöhnten
nicht selbst die Letzteren, während sie die ihnen feindlichen
Mächte bekämpften und verfluchten, ihre eigenen Gläubigen
an Gehorsam gegenüber einer neuen Tyrannei? Die geistige
Sklaverei, welcher Natur sie auch sein mag, wird immer die
politische und soziale nach sich ziehen. Heute stellt das Christentum
in all seinen Erscheinungsformen mitsamt der doktrinären,
deistischen oder pantheistischen Metaphysik, die nichts anderes
ist als eine schlecht verbrämte Theologie, das größte Hindernis
für die Befreiung der Gesellschaft dar; der Beweis hierfür ist,
dass alle Regierungen, alle Staatsmänner, alle, die sich, offiziell
oder inoffiziell, als Hirten der Volkes betrachten und in ihrer
großen Mehrzahl heute zweifellos weder Christen noch Deisten,
sondern Agnostiker sind, die (…) weder an Gott noch an den
Teufel glauben, aber nichtsdestoweniger mit sichtlichem
Interesse alle Religionen förderten, vorausgesetzt, dass sie
Geduld, Entsagung und Unterwerfung predigten, was sie
übrigens alle tun.
Michail Bakunin, „Die philosophischen Betrachtungen…“
Der Kapitalismus hat sich – wie nicht allein am Calvinismus,
sondern auch an den übrigen orthodoxen christlichen Richtungen
zu erweisen sein muss – auf dem Christentum parasitär entwickelt,
dergestalt, dass zuletzt im wesentlichen seine Geschichte die
seines Parasiten, des Kapitalismus ist.
Walter Benjamin, „Kapitalismus als Religion“
Die Idee, mich näher mit dem östlichen Christentum und in erster Linie mit der Russischen Christlich-Orthodoxen Kirche (im Weiteren ROK genannt) auseinanderzusetzen, kam mir in den Sinn, ehrlich gesagt, erst im Zuge des russischen hybriden Kriegs im Osten der Ukraine. Wer das Geschehen in Russland über die Jahre verfolgt hat, wird schon längst die schleichende Klerikalisierung des Landes, die vielem Immobilien- und Korruptionsskandale, in die die größte Landeskirche verwickelt war, bemerkt haben. Dass aber der multiethnische und folglich multikonfessionelle Staat, der qua Verfassung ein säkularer ist und keine offizielle Religion hat, in der letzten Zeit den christlich-orthodoxen Glauben beim Export und der Verfestigung der politischen Reaktion im Inneren immer öfter ins Feld bringt, das ist eine relativ neue Entwicklung. Das geschieht natürlich zuallererst zur Legitimation solch militärischer Auslandseinsätze wie der Annexion der Krim, in der Ostukraine oder letztens in Syrien bei der eigenen Bevölkerung. Wir werden allerdings sehen, dass Russland die ROK auch im Ausland zu legitimatorischen, imageverbessernden und diplomatischen Zwecken einsetzt. Continue reading “«Wir sind Russen, Gott ist mit uns», Teil 1”